Mai 2025 – Ausgabe 45
„Travelling a week is more than reading a thousand books“ – was mich als Knie- und Fußchirurg geprägt hat
Prof. Dr. med. Hajo Thermann
Vorweg ist zu sagen: Es gibt nicht die eine klinische Erfahrung, von der man sagen könnte, sie hat mich geprägt oder dass durch sie das medizinische Interesse für ein Spezialgebiet geweckt worden wäre. Schlüsselerlebnisse gab es aber anfangs durchaus.
Das erste prägende Erlebnis für mich war, als ich als Zivildienstleistender 1972 ins Kreiskrankenhaus Lemgo kam und dort ein gleichaltriges Mädchen mit einer schwersten Rückenmarkstumorerkrankung pflegen durfte, die quasi vor sich hinsiechte. Da wollte ich nicht mehr Chemie studieren.
Ich war überzeugt, dass ich mit der Medizin mehr Leid lindern, Freude teilen und so einen wichtigen Beitrag für mein Leben und das bedürftiger Menschen leisten könnte.
Der Weg führte mich nach dem Studium ins Bethesda Krankenhaus nach Wuppertal, wo ich extrem unterstützt wurde, sodass ich schon frühzeitig beginnen und fast meinen gesamten OP-Katalog innerhalb von zwei Jahren operieren konnte. Nachdem ich im Bergmannsheil Gelsenkirchen eine Hospitation bei Dr. Löhnlein gemacht hatte, der damals einer der führenden Kniearthroskopeure war, durfte ich fast eigenständig die ganzen Kniearthroskopien durchführen.
In Wuppertal erfuhr ich eine weitere Prägung: Als jüngster Assistent (wer sonst?) musste ich einer jungen Frau beibringen, dass sie – ein Jahr nach einer optimalen Kolonresektion wegen eines Karzinoms (ich war dabei und beeindruckt) – eine furchtbare Peritonealkarzinomatose entwickelt und nun einen Anus praeter hatte. Ich bin in ihr Zimmer gegangen, habe kein Wort herausgebracht und nur ihre Hand gehalten. Da wollte ich nicht mehr Bauchchirurg werden.
Schon frühzeitig hatte ich als ehemaliger Profisportler den starken Antrieb, besser zu sein auch im Vergleich mit meinem Kollegenkreis, sodass ich auch schon in Wuppertal viele Kongresse und Workshops besuchte sowie viele Bücher und Artikel las. Da ich einen höheren Level erreichen und wissenschaftlich arbeiten wollte, entschloss ich mich, an eine Universität zu wechseln. Da zum damaligen Zeitpunkt die Medizinische Hochschule Hannover im Bereich Unfallchirurgie mit Prof. Tscherne auch international Benchmark war, habe ich mich dort beworben. Nur durch einen Zufall bekam ich einen auf ein Jahr befristeten Vertrag, da diese Stelle gerade wegen einer Amerika-Hospitation frei wurde. Ich muss es nicht so schlecht gemacht haben, da mein Vertrag verlängert wurde und es am Ende in Hannover zwölf Jahre wurden. Als ehemaliger Fußballer hatte ich frühzeitig gesehen, dass Hannover Champions League war. Dort herrschte damals ein fairer Wettbewerb, bei dem es darum ging, mit Leistungen und wissenschaftlicher Präsenz bis an die Spitze zu kommen, sprich Habilitation und Oberarztstelle zu erringen.
Der enge Kontakt mit internationalen Top-Unfallchirurgen und -Orthopäden, die alle in unserer berühmten Mittwochskonferenz vortrugen (Murray, Rockwood, Helfet, Letournel, Ted Hansen, das ganze obere Regal!) – die Gottväter eines Spezialgebietes –, hat mir frühzeitig den Input gegeben, dass ich dorthin will.
Das Whitney-Houston-Prinzip: I learned from the best
Dies begann in Hannover und wurde massiv intensiviert nach meinem Wechsel 1998 zur ATOS Klinik in Heidelberg. Zu diesem Zeitpunkt war ich auch schon in den wichtigsten europäischen Gremien sowie Mitbegründer der European Foot and Ankle Society. Da ich nach meinem Wechsel auch die Knieendoprothetik mitbetreute, zu der ich in Hannover noch keine umfangreiche Expertise und Erfahrung gesammelt hatte, galt meine erste Hospitationstour der Knieendoprothetik, wo ich z. B. bei Sculco, Laskin (Special Surgery) und de Ritter hospitierte. Der 14-tägige Aufenthalt bei Leo Whiteside, dem für mich prägendsten Lehrer in der Knieendoprothetik, gab meinem Verständnis der Knieendoprothetik einen gewaltigen Schub. Aus meiner Sicht war Leo Whiteside der Einzige, der Kniebalancing in absoluter Tiefe und Klarheit verstand. Angesichts dieses Niveaus war mir klar, dass dies das Level war, auf das ich im Laufe der Zeit kommen wollte.
Mein zweiter Schwerpunkt war meine Rolle als Wissenschaftler, Lehrer und Vortragender. Ich habe immer sehr aufmerksam die größten Meister studiert, wie sie in ihren Vorträgen nicht nur den Inhalt vermittelten, ohne dass es langweilig wurde. Der größte „Lecturer“ war für mich Charlie Rockwood. Ich erinnere mich z. B. an einen einstündigen Vortrag von ihm in Berlin mit einem unglaublichen Spannungsbogen, der mich mehr als atemlos zurückließ. Auch die Persönlichkeit von Kenneth Johnson, den ich bei einer dreiwöchigen Hospitation in der Mayo Clinic kennenlernte, beeindruckte mich stark. Eine besondere Bandbreite an Top-Leadership bot die Medizinische Hochschule Hannover mit dem Unfallchirurgen Harald Tscherne, dem Herzchirurgen Hans Borst und vor allem mit dem Transplantationschirurgen Rudolf Pichlmayr, welche überragende Leader als Ausbilder und Organisatoren waren.
Als ich gerade selbstständig wurde und in der ATOS Klinik Leadership zeigen wollte und musste, hatte ich das Glück, dass sich in meinem Freundeskreis Top-Manager und -Berater von deutschen DAX-Firmen befanden, die mir nicht nur Managementliteratur empfahlen, sondern einen fantastischen Anstoß für meine weitere Entwicklung als Leader gegeben haben.
Mit der hohen OP-Frequenz, die ich nun in der ATOS Klinik umsetzte, wuchsen natürlich ein erhebliches Selbstvertrauen und eine große Routine, sodass ich – nach extrem intensiver Vorbereitung – viele Operationen durchgeführt habe, die man in keinem Buch findet. Leider fehlte mir auch die Zeit, diese noch zu veröffentlichen.
In manchen Situationen habe ich mein internationales Netzwerk kontaktiert, um eine Rückmeldung für meine Problemlösung zu bekommen, und es zeigte sich, dass in vielen Situationen der Beatles-Song „I get by with a little help from my friends“ hilfreich war. Die Anregungen und die Ansichten meines internationalen Freundeskreises haben mich weiter verbessert und geprägt.
Welche speziellen Innovationen haben mich besonders geprägt?
Ohne Frage war das meine prospektiv randomisierte Achillessehnenstudie mit dem von mir entwickelten Achillessehnenschuh. Die konservativ-funktionelle Behandlung war einer meiner wesentlichen Entwicklungsschritte. Die Behandlung der Achillessehne habe ich als Spezialgebiet weiterverfolgt, auch gefördert durch die Freundschaft mit Bernhard Segesser, einem der „Paten“ der Achillessehnenchirurgie.
Besonders stolz bin ich auf die Einführung der endoskopischen Achillessehnenchirurgie im Jahr 2009. Seit diesem Zeitpunkt habe ich praktisch keine Achillessehne mehr offen operiert, sondern auch bei Infekten eine endoskopische Operation favorisiert. Dies hat sich als extrem erfolgreich erwiesen im Hinblick auf die Vermeidung von Infektionen, aber auch im Hinblick auf optimale Ergebnisse.
Ein weiterer großer Schwerpunkt war die Knorpelrekonstruktion. Gerade weil ich ab 2003 keine Osteotomien mehr durchgeführt und die Knorpelrekonstruktion am Sprunggelenk nur noch endoskopisch vorgenommen habe, liegt mir diese besonders am Herzen. Der berühmte „Knieguru“ Dick Steadman, ein Freund von Hans Pässler, der die Mikrofrakturierung inauguriert hatte, hat uns in Heidelberg besucht. Als ich ihm zeigte, dass ich schon seit einem Jahr die Mikrofrakturierung am Sprunggelenk durchführte, hat er mich ermutigt, dies wissenschaftlich aufzuarbeiten. Daraus ist eine der ersten publizierten wissenschaftlichen Studien zur Mikrofrakturierung am Sprunggelenk entstanden.
Die Knieendoprothetik und Osteotomien am Knie sind durch mein Eintreten in das Zentrum für Knie- und Fußchirurgie ein weiterer wichtiger Schwerpunkt geworden, da Hans Pässler die Sportchirurgie und die Kreuzbandchirurgie eingeführt hat. Ich habe die Endoprothetik sehr geliebt sowie in Pre-Usergruppen der Firma Smith + Nephew mitgewirkt. Meine liebste Prothese war die erste anatomische Prothese, die Journey-Prothese, die sehr anspruchsvoll zu implantieren war, aber unvorstellbare Ergebnisse im Hinblick auf Beweglichkeit, Mobilität und Schmerzfreiheit geliefert hat.
In den letzten Jahren hat mich der Einsatz von KI und Robotik in der Chirurgie und vor allem jetzt auch in der Orthopädie am meisten beeindruckt. Schon vor zehn Jahren hatte man mir den Mako-Roboter angeboten. Damals gab es hierzu aber keine wissenschaftlichen Ergebnisse, und daher war dies kein Verfahren, das ich in einer Privatklinik einführen konnte ohne wissenschaftliche Evidenz. Die Ergebnisse wurden jedoch dann überzeugend geliefert, sodass ich den Schritt gemacht habe, der durch unsere Operateurinnen und Operateure hier in der ATOS Klinik Heidelberg zu einem großen Erfolg wurde.
Wissenschaftlich bin ich neben vielen peer-reviewten Papern auf meine Monographie „Neue Techniken in der Fußchirurgie / New Techniques in Foot Surgery“ besonders stolz, nicht zuletzt da ich sie häufig in den Pausen während der Fußballhallenturniere meines Sohns (damals E-Jugend) diktiert habe.
Fazit
Was bleibt aus meiner Sicht und was hat zu dem Erfolg geführt? Ich denke, überragend wichtig sind sekundäre Tugenden wie Fleiß, Disziplin und Respekt sowie eine extreme Neugierde gepaart mit einem wachsenden und stabilen Selbstvertrauen, um neue Techniken ohne Probleme anzuwenden oder sich selbst neue Techniken auszudenken.
In manchen Situationen habe ich das Nike-Prinzip übernommen – Just do it! Gut vorbereitet mit einem genauen Plan kann man manche Dinge einfach machen, auch neue Techniken gelingen dann sofort. Das Wichtigste jedoch, um wirklich sein Level zu verbessern, steht in einem meiner Lieblingszitate von Konfuzius: Traveling a week is more than reading a thousand books.