November 2022 – Ausgabe 40
Skapulothorakale Dyskinesie – Ursache oder Begleiterscheinung einer (Sport-)Verletzung?
Dr. med. Johannes Buckup
Philipp Schippers
Schlüsselwörter: primäre/sekundäre skapulothorakale Dyskinesie, Überkopfsportarten, sekundäres Impingement, Klassifikation nach Kibler
Die skapulothorakale Dyskinesie tritt vor allem bei Sportarten auf, die wiederholte Abduktions- und Außenrotationsbewegungen der Schulter erfordern. „Überkopfsportler“ leiden dann unter bewegungsabhängigen Schmerzen und häufig einem sekundären Impingement der Schulter. Die Therapie der skapulothorakalen Dyskinesie erfolgt überwiegend konservativ.
Bewegungseinschränkungen und Schmerzen im Schultergelenk sind in der Praxis des Orthopäden eine häufig gesehene Symptomatik. Bei den hochkomplexen Bewegungsabläufen im Schultergelenk kommt der Skapula eine sprichwörtlich tragende Rolle zu. In Stellung gehalten und muskulär geführt wird die Skapula vor allem durch die Mm. trapezius, rhomboidei, serratus anterior und levator scapulae.
Eine skapulothorakale Dyskinesie (SD) beschreibt eine Fehlstellung oder ein untypisches Bewegungsmuster des Schulterblattes. Meist tritt sie einseitig auf und fällt der/dem geübten Untersuchenden im Seitenvergleich bereits in Ruhe auf. Häufig geht sie mit bewegungsabhängigen Schmerzen und einem sekundären Impingement der Schulter einher. Sporttreibende – vor allem in Überkopfsportarten – zeigen aufgrund wiederholter Abduktions- und Außenrotationsbewegungen eine hohe Prävalenz einer SD.
Die genaue Genese der SD ist jedoch bis heute weitestgehend unbekannt.
In vielen Fällen entsteht die SD sekundär aufgrund muskulärer Dysbalancen, z. B. im Zusammenhang mit einer Rotatorenmanschettenruptur, einer Verletzung des AC-Gelenks oder der Skapula selbst, einem Impingement, einer Tendinitis calcarea oder einer Instabilität. Beschrieben ist jedoch auch das primäre Vorliegen einer SD mit sekundärer Entstehung von Begleitpathologien, z. B. aufgrund von Kontrakturen oder muskulären Insuffizienzen. Wichtig: Auch bei asymptomatischen Patientinnen bzw. Patienten konnte eine hohe Prävalenz der SD festgestellt werden.
Klinisch fällt die SD neben der unphysiologischen Stellung in Ruhe vor allem durch Schmerzen beim Absenken des antevertierten Armes auf. Eine mögliche Einteilung bietet die Klassifikation nach Kibler (Tabelle 1).
Die SD – eine anspruchsvolle Diagnose
Da die SD weder im Röntgen noch im MRT sichtbar ist, kommt der ausführlichen klinischen Untersuchung der/des entkleideten Patientin/Patienten eine große Bedeutung zu. Neben der strukturierten Untersuchung des Glenohumeralgelenks sollten von dorsal das Bewegungsmuster der Schulterblätter und etwaige Asymmetrien im Seitenvergleich beim Absenken des antevertierten Armes beurteilt werden.
Das klassische Bild der SD ist gekennzeichnet durch einen prominenten Angulus inferior oder der Margo medialis der Skapula. Zur stärkeren Belastung der exzentrischen Muskulatur kann die Bewegung bei der Untersuchung auch mit einem Gewicht in der Hand durchgeführt werden.
Ein weiterer Hinweis auf eine SD kann eine Schmerzverstärkung beim Absenken des innenrotierten Armes aus der Elevation sein. Viele Patientinnen bzw. Patienten klagen zudem über ein „Painful Arc“ zwischen 60-120° im Sinne eines Impingement-Syndroms. Sollte sich nach der Anamnese (rezidivierende Schmerzen nach wiederholter Überkopfbelastung und Rotation des Arms im Sport oder Beruf) und Inspektion der Hinweis auf eine SD ergeben, sollte die Untersuchung ergänzt werden durch den sog. „Scapular Assistance“-Test. Hierfür unterstützt die / der Untersuchende die aktive Elevation durch Fixierung der Skapula am kranialen Pol und durch posterolateralen Druck des inferioren Pols. Eine Beschwerdelinderung des „Painful Arc“ deutet auf das Vorliegen einer SD hin. Differentialdiagnostisch muss auch immer im Seitenvergleich das Kapselmuster in 90° Abduktion beurteilt werden, um ein Innenrotationsdefizit-Syndrom (GIRD-Syndrom) auszuschließen.
Die SD im Zusammenhang anderer Schulterpathologien
Eine SD führt zu einer veränderten Stellung der Skapula im Raum. Meistens kommt es hierbei zu einer Protraktion („Vorwärtsführen“) der Skapula mit signifikanten Auswirkungen auf alle wichtigen Strukturen. So führt eine Protraktion der Skapula zu einem verringerten subakromialen Abstand, was ein Impingement verstärken oder auslösen kann. Durch eine veränderte Belastung der Rotatorenmanschette kann eine Ruptur ausgelöst oder symptomatisch werden. Weiterhin beschrieben sind Einflüsse auf die anterior-inferiore Instabilität und ein erhöhtes Luxationsrisiko, ebenso ein veränderter Zug auf die lange Bizepssehne und damit eine große Gefahr für SLAP- oder Pulley-Läsionen. Hierbei lässt sich wohl nie gänzlich klären, was zu Beginn vorlag: eine Fehlbelastung der Muskulatur, eine SD und eine daraus resultierende Pathologie, oder der genau umgekehrte Fall.
Eine SD tritt folglich selten allein auf, sollte aber genauso beim Vorhandensein einer anderen Pathologie nicht außer Acht gelassen werden. Im Gegenteil kann eine vorhandene SD sogar die Heilung weiterer Pathologien, egal, ob konservativ oder operativ behandelt, behindern und sollte deshalb therapeutisch immer mit adressiert werden.
Mögliches Behandlungsschema der SD
Stufe1: Rumpfstabilisierung/ Balanceübungen
Stufe 2: Schulterhebung bis 90° schmerzfrei möglich
Stufe 3: Schulterhebung bis 180° schmerzfrei möglich
Stufe 4: Sportartspezifisches Skapulatraining mit Kombinationsübungen zur Rumpfstabilisierung und Skapulatraining
Behandlungsmöglichkeiten der SD
Die Behandlung der SD basiert fast ausschließlich auf konservativer Therapie mit gezielter Physiotherapie. Entscheidend für den Erfolg der konservativen Therapie ist jedoch eine ausreichende Pause der sportlichen Belastung mit Vermeidung der repetitiven Überbelastung. Die Literatur beschreibt eine maximale Sportkarenz von 3 bis 12 Wochen je nach Ausmaß der Beschwerden. Zur Beschleunigung der Heilung und als unterstützende Maßnahme wird auch eine ausreichende analgetische und antiphlogistische Therapie mittels NSAR empfohlen.
Hauptziel der physiotherapeutischen Behandlung ist eine Wiederherstellung der physiologischen skapulären Stellung und des skapulothorakalen Bewegungsmusters. Daher muss vor Beginn der Therapie unbedingt geklärt werden, ob die Ursache der Pathologie eine muskuläre Schwäche oder eine kollaterale Pathologie ist. Die wichtigsten Muskeln, die es zu stärken gilt, sind der M. trapezius und der M. serratus anterior.
Sollte die SD im Rahmen einer peripheren Pathologie aufgetreten und der Bewegungsumfang der Schulter eingeschränkt sein, so sollte der Fokus der Behandlung zunächst auf einer Dehnung der skapulären und glenohumeralen Muskulatur liegen. Hierbei sollten v. a. die Mm rhomboidei, der M. pectoralis minor und der M. levator scapulae gedehnt werden.
Die Abbildungen auf der linken Seite zeigen einen Auszug eines möglichen Behandlungsschemas, das Patientinnen bzw. Patienten nach Einweisung in entsprechender Eigenregie durchführen sollten. Es basiert auf mehreren Etappen, wobei die Patientin bzw. der Patient zunächst mit Übungen zur Stärkung der Rumpfmuskulatur beginnt. Hieran schließen sich Übungen der Stufe 2 und 3 an, die sich nach der Fähigkeit zur schmerzfreien Schulterabduktion richten. In der letzten Stufe folgen sportartspezifische Übungen.
Zusammenfassung
Die skapulothorakale Dyskinesie ist ein Erkrankungsbild der Schulter, bei dem es zu einer pathologischen Stellung und einem unphysiologischen Bewegungsmuster des Schulterblattes kommt. Gegenstand der aktuellen Forschung ist der Versuch, die SD noch besser und standardisierter diagnostizieren zu können, z. B. durch die Entwicklung von dynamischer 3D-Bildgebung der Schulter. Hier- durch erhofft man sich, pathologische Bewegungsmuster frühzeitig zu erkennen, um weiteren Schaden an der Schulter rechtzeitig abwenden zu können.
Aktuell bleibt die SD jedoch weiterhin eine anspruchsvolle und leider oft übersehene Diagnose. Die Herausforderung liegt darin, zu erkennen, ob die SD Ursache oder Begleiterscheinung einer Pathologie der Schulter darstellt. Eine klare Grenze zu ziehen ist oftmals nicht möglich. Der erste Schritt sollte jedoch sein, bei der klinischen Untersuchung der Schulter systematisch an eine SD zu denken.
Die visuelle Beurteilung des skapulothorakalen Bewegungsmusters und der Scapular Assistance Test sind hierbei wichtige diagnostische Tools.
Bei der Diagnose einer SD ohne operationsbedürftige Begleitpathologien muss die SD individuell und gezielt physiotherapeutisch behandelt werden. Dies führt häufig zu einer kompletten Beschwerdereduktion und nicht selten zu einer Vermeidung unnötiger operativer Eingriffe.