Oktober 2024 – Ausgabe 44
Rekonstruktion des Streckapparates bei einer Knieprothese: Fallbeispiel und Literaturübersicht
Prof. Dr. med. Rainer Siebold
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Schlüsselwörter: Abriss des Streckapparats, Patellafraktur, Rekonstruktion des Streckapparates, Allograft des Streckapparates, Achillessehnen-Allograft
Der Abriss des Streckapparates nach einer Knieprothese ist eine ernsthafte Komplikation. Durch die Verletzung resultiert eine sehr starke Funktionseinschränkung mit Kraftverlust für die Streckung des Unterschenkels und Instabilität beim Gehen. Die Patientinnen und Patienten können sich meist nur mit Gehbock oder Rollstuhl fortbewegen. Anhand eines Fallbeispiels und einer Literaturübersicht wird hier über den selten durchgeführten Ersatz des Streckapparates durch ein Allograft berichtet.
Liegt ein akuter Riss der Patellarsehne oder der Quadrizepssehne vor, kann versucht werden, den Riss durch eine Naht und zusätzliche Augmentation des Gewebes durch eine Semitendinosus- oder einer anderen körpereigenen Sehne zu verstärken. Eine – selten auftretende – Patellafraktur kann ebenfalls entsprechend osteosynthetisch versorgt werden.
Leider ist das Risiko für eine ausbleibende Heilung bzw. Reruptur der Sehne bei liegender Knieprothese hoch. In dieser Situation gibt es nur noch die Möglichkeit, den Defekt des Streckapparates durch ein Spendertransplantat (Allograft) oder ein künstliches Netz zu überbrücken. Im Folgenden wird ein Fall geschildert, bei dem der Streckapparat komplett ersetzt wurde. Auch werden Ergebnisse aus der Literatur beschrieben.
Einführung
Ein Riss des Streckapparates ist eine seltene, aber schwerwiegende Komplikation, die 0,1–2,5 Prozent aller Komplikationen nach einer Knietotalendoprothese ausmacht. Durch den Riss kommt es zu einem Verlust der aktiven Kniestreckung mit der Unfähigkeit, das gestreckte Bein und den Unterschenkel anzuheben. Auch resultiert eine Bewegungseinschränkung des Knies, was zu einer Verschlechterung der Kniefunktion und der Lebensqualität, zu Knieinstabilität mit wiederholten Stürzen und zu chronischen Schmerzen führt. Die Betroffenen benötigen häufig Knieschienen und/oder Gehhilfen, um die Funktionseinschränkung auf Höhe der Quadrizepssehne, der Patella oder der Patellarsehne zu kompensieren.
Obwohl mehrere chirurgische Techniken existieren, besteht in der Literatur kein Konsens über die Art der Rekonstruktion des Streckapparates. Dabei hängt die Wahl der chirurgischen Behandlung von mehreren Faktoren ab, darunter die Art und die Chronizität der Verletzung, der Ort des Versagens, das Vorhandensein oder Fehlen eines Funktionsverlusts, der allgemeine Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten sowie die Erfahrung und das Fachwissen des Chirurgen.
OP-Techniken
Primäre Reparaturtechniken wie die Drahtcerclage der Kniescheibe oder die Naht der gerissenen Sehne haben höhere Komplikationsraten nach traumatischer Verletzung, aber auch unbefriedigende Ergebnisse bei chronischen Läsionen nach Knie-TEP. Es kommt zu hohen Rerupturraten mit verbleibendem Funktionsverlust für die Streckung. Menschliches Spendergewebe von einer Gewebebank (= Allografts) hat eine gute mechanische Festigkeit und die Fähigkeit, einzuwachsen. Allografts eignen sich daher gut zur Rekonstruktion größerer Defekte des Streckapparates.
Für die Defektdeckung bei Knie-TEP werden Achillessehnen-Allografts und komplette Allografts des Streckapparates (Tuberositas tibiae Knochenblock-Patellar- sehne-Patella-Quadrizepssehne) verwendet. Beide Arten von Allografts haben unterschiedliche Indikationen. Der Einsatz eines kompletten Streckapparates ist insbesondere dann angezeigt, wenn der Patient/die Patientin einen knöchernen Patellardefekt oder einen chronischen Defekt nach Quadrizeps- oder Patellarsehnenruptur aufweist. Probleme von Allografts sind die Verfügbarkeit, die Kosten und das Potenzial für Immunreaktionen und Krankheitsübertragungen. Günstiger und im Hinblick auf eine Krankheitsübertragung unproblematisch sind künstliche Gewebegitter (Mesh), die alternativ in Defekte eingenäht werden können.
Fallbeispiel
Ein 74-jähriger Patient stellte sich in der Sprechstunde vor. Vor vier Jahren hatte er im Ausland eine Knieprothese mit Retropatellarersatz bekommen. Die Röntgenaufnahmen zeigten einen regelrechten festen Sitz der Prothese. Nach anfänglich gutem Verlauf war der Patient gestürzt und hatte sich dabei eine Patellafraktur und einen Riss der Quadrizepssehne zugezogen. Trotz zweimaliger Quadrizepssehnennaht verblieb ein großer chronischer Sehnendefekt. Der Kniescheibenbruch wurde osteosynthetisch durch Drahtcerclage versorgt. Leider verblieben auch hier große knöcherne Defekte und ein starker Patellatiefstand (Abb. 1 a, b).
Der Patient konnte deshalb weder gehen noch stehen und war seit vier Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Er war zu einer Operation entschlossen, um wieder gehfähig zu werden.
Gemeinsam wurde die Entscheidung zu einem kompletten Ersatz des Streckapparates durch ein Spendertransplantat (Allograft) von einer Gewebebank getroffen, um den großen chronischen Defekt des Streckapparates zu beheben und die zerstörte Kniescheibe zu ersetzen. Es wurde ein Spendertransplantat bestehend aus Quadrizepssehne, Patellarsehne und Tuberositas tibiae eingesetzt (Abb. 2 a-c und 3 a, b).
Etwa drei Monate postoperativ konnte der Patient aus dem Rollstuhl heraus erstmals wieder eigenständig stehen und selbstständige Schritte am Gehwagen durchführen. Der Bewegungsumfang war 0-10-90°, das Transplantat war zu diesem Zeitpunkt bereits gut eingewachsen.
Ergebnisse
Trotz der sehr schwierigen Ausgangssituation werden in der Literatur zufriedenstellende Ergebnisse berichtet. Es verbleiben dennoch meist funktionelle Einschränkungen mit Streck- und Kraftverlust. Da es sich um eine seltene Operation handelt, werden in der Fachliteratur weltweit nur wenige Ergebnisse beschrieben.
Balato et al. konnten in einem aktuellen systematischen Review und einer Meta-Analyse in der Literatur insgesamt 238 Patientinnen und Patienten identifizieren, die sich einer Rekonstruktion des Streckapparates mit Allograft bei liegender Knie-TEP unterzogen haben [1]. Die Beteiligten der Studie waren zwischen 54 und 74 Jahre alt und die Nachbeobachtungszeit betrug 1,5 bis 5,9 Jahre. Es lagen 166 Patellasehnenrupturen, 29 Quadrizepssehnenrupturen und 29 Patellafrakturen sowie weitere Ursachen vor. In 74 Prozent der Fälle bestand ein chronischer Defekt des Streckapparates. Nach primärer TKA traten 207 Streckmechanismusrupturen auf, nach Revisions-TKA 44. Bei 92 Kniegelenken wurde ein Achillessehnenallograft verwendet und bei 153 Kniegelenken ein kompletter Allograft-Streckapparat. Die Versagensrate nach Achillessehnenallograft liegt in der Literatur bei 23 Prozent und nach Ersatz des gesamten Streckapparates durch Allograft bei 24 Prozent.
Klinische Ergebnisse
Gemäß der Metaanalyse von Balato et al. [1] lag die postoperative mittlere Knieflexion der 238 Patientinnen und Patienten zwischen 95° und 117° und das Extensoren-Defizit zwischen 0° und 59° mit einem durchschnittlichen Steckdefizit von 10°. Durch die Operation konnten die klinische Situation und die Funktionalität im Vergleich zum Ausgangsbefund deutlich verbessert werden. 43 Prozent der Patientinnen und Patienten waren postoperativ auf Gehstützen oder einen Rollator angewiesen.
Fazit
Die Rekonstruktion des Streckapparates mit Allografts ist eine gute Behandlungsoption bei Patientinnen und Patienten mit akuter oder chronischer Ruptur nach Knieprothese. Das operative Vorgehen ist sehr anspruchsvoll und die Rehabilitation langwierig. Beide Allograft-Operationen zeigen ähnliche Ergebnisse. Die häufigste Komplikation ist ein anhaltendes Streckdefizit. Bei Patellarsehnenrupturen weisen beide Allografts vergleichbare Erfolgsraten und klinische Ergebnisse auf.
„Die Rekonstruktion des Streckapparates mit Allografts ist eine gute Behandlungsoption für Patienten mit Ruptur nach Knieprothese.“