Oktober 2025 – Ausgabe 46
Prävention – wie wichtig ist sie zur Vermeidung orthopädischer Probleme bei Kindern?
Prof. Dr. med. Sébastien Hagmann
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Kinder sind keine kleinen Erwachsenen! Dieser oft gehörte Satz enthält eine der wichtigsten Erkenntnisse über Medizin bei Kindern: Aufgrund des Wachstums und der immensen Entwicklung während Kindheit und Jugend gelten für Kinder ganz andere Regeln als für Erwachsene. Dass insbesondere die Prävention in der Kinder- und Jugendorthopädie eine herausragende Rolle spielt, soll dieser Artikel erläutern (Abb. 1).
Hüftdysplasie
In vielen Ländern der Welt werden Neugeborene auf das Vorliegen einer Hüftgelenkdysplasie untersucht. Bei der Hüftdysplasie handelt es sich um eine angeborene Erkrankung der Hüften, bei der eine Anlage- bzw. Reifungsstörung der Hüftgelenke besteht. Unerkannt drohen Gangprobleme, Schmerzen und später ein Verschleiß des Hüftgelenkes. Zur Abklärung der Hüftdysplasie stehen prinzipiell verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. So kann – und dies wird in den meisten Ländern dieser Welt so gehandhabt – eine klinische Untersuchung erfolgen. Problematisch hieran ist, dass in der Regel nur bestimmte Formen der Hüftdysplasie erkannt werden können: Wenn etwa ein Seitenunterschied besteht, der aber bei beidseitigem Auftreten eben nicht existiert, oder wenn Instabilitätszeichen bestehen, die allerdings sowohl bei den leichteren als auch den ganz schweren Formen in der Regel fehlen.
In Deutschland und Österreich existiert seit den 1990er Jahren ein Screening-Programm per Ultraschall, das auf die Methode nach Graf zurückgeht. Durch intensive Forschungstätigkeit entwickelte Prof. Dr. Reinhard Graf am Landeskrankenhaus Stolzalpe (Österreich) sowohl eine Methode, die zuverlässig und reproduzierbar Hüftdysplasien erkennen kann, als auch einen Behandlungsalgorithmus mit gleichzeitigem Nachweis der Wirksamkeit. Obwohl volkswirtschaftliche Studien ergaben, dass die Durchführung eines Ultraschallscreenings bei allen Neugeborenen günstiger ist als die spätere Behandlung unbehandelter, weil nicht erkannter Hüftdysplasien, hat sich das Screening in vielen Ländern nicht durchgesetzt. Zwar ist die Methode weltweit verbreitet, z. B. um wie in Schweden bei klinischen Hinweisen auf Hüftdysplasie diese weiter abzuklären, das flächendeckende Screening auf die Erkrankung wie in Deutschland und Österreich ist allerdings eine absolute Besonderheit.
In Deutschland erfolgt die Untersuchung auf Hüftdysplasie bei der U3, also in der vierten bis sechsten Lebenswoche (Abb. 2). Bei Vorliegen bestimmter Kriterien empfiehlt sich eine frühere Durchführung, z. B. bei der U2 (direkt nach der Geburt):
- bei Vorliegen einer Hüftdysplasie in der direkten Verwandtschaft (Geschwisterkinder oder Eltern),
- bei Entbindung aus Beckenendlage,
- bei Mehrlingsschwangerschaften,
- bei auffälligem klinischem Befund.
Die Hüftsonographie erfolgt in einer standardisierten Technik, die von der Lagerung und Positionierung des Neugeborenen über die Abtasttechnik bis zur Bildwiedergabe und Identifizierung zur einheitlichen Beschreibung des Ultraschallbefundes mit Konsequenzen für die Behandlung reicht. Mit dieser Technik und im Rahmen des Screenings ist es gelungen, die Anzahl an Hüftoperationen im Kindes- und Jugendalter sowie die Anzahl an Hüftgelenkendoprothesen wegen sogenannter Dysplasiekoxarthrosen (Hüftarthrosen wegen der Dysplasie) deutlich zu senken. Damit ist der Hüftultraschall ein Paradebeispiel für Prävention bzw. Prophylaxe im Kindesalter, die bis zum Erwachsenen wirkt.
Skoliose und weitere Wirbelsäulen- und Brustkorberkrankungen
Bei der Skoliose handelt es sich um eine Erkrankung, bei der es im Kindes- und Jugendalter zur Verbiegung der Wirbelsäule und zur Drehung kommt. Sogenannte degenerative (auch de-novo) Skoliosen, die durch Wirbel- und Bandscheibenverschleiß in höherem Alter entstehen, sind davon abzugrenzen. Skoliosen können bereits bei Säuglingen und Kleinkindern vorkommen und haben dann aber meist auch besondere Ursachen, z. B. eine neurologische Grunderkrankung oder Wirbelkörperfehlbildungen. Diesen frühen Skoliosen ist die deutlich schlechtere Prognose hinsichtlich einer Verschlechterung gegenüber der häufigsten Form, der idiopathischen Adoleszentenskoliose, gemein. Letztere hat nicht ganz geklärte Ursachen (daher „idiopathisch“) und fällt in der Regel kurz vor der Pubertät auf, wobei Mädchen deutlich häufiger betroffen sind.
Die Behandlung fällt sehr unterschiedlich aus und reicht je nach Schweregrad und Alter von Physiotherapie und dem eigenständigen Durchführen von Übungen zur Kräftigung der Rumpfmuskulatur über eine Korsettbehandlung bis zu aufwendigen Begradigungsoperationen. Diese Behandlungen sollen verhindern, dass sich die Statik der Wirbelsäule so stark verändert, dass hierdurch schnellerer Verschleiß und Schmerzen resultieren oder sogar Organkomplikationen wie eine Einengung von Brust- und Bauchorganen.
Weitere Krankheiten, auf die es im Kindes- und Jugendalter an der Wirbelsäule und am Brustkorb bzw. an der Rumpfmuskulatur zu achten gilt, sind u. a.:
- Torticollis (muskulärer Schiefhals): Dieser fällt in der Regel direkt nach der Geburt auf.
- Morbus Scheuermann (Adoleszentenkyphose): Jugendliche zeigen einen typischen „Rundrücken“.
- Spondylolisthesis und Spondylolyse: anlagebedingtes Wirbelgleiten durch Defekt in der „Interartikularportion“ der Wirbel
- Trichterbrust und Kielbrust
Alle diese Erkrankungen können in der Regel durch eine klinische Untersuchung vermutet und ggf. durch weiterführende Diagnostik (Röntgen, MRT, CT) bestätigt werden. Folgende drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig: Vor, während und nach der Pubertät können diskrete Veränderungen, insbesondere solche, die sich unter Kleidung verstecken lassen, von den Eltern auch nicht bemerkt werden. Da insbesondere in der Pubertät der Umgang mit dem eigenen Körper schwierig sein kann, verschweigen manche Jugendliche auch Veränderungen, die ihnen selbst aufgefallen sind (Trichterbrust, Kielbrust etc.).
Zwar geben bestimmte besondere Zeichen, wie das Sprungschanzenphänomen an der Lendenwirbelsäule, Hinweise (in diesem Fall auf ein Wirbelgleiten), diese können aber auch fehlen. Insbesondere die Kenntnis von Sportarten, die diese Erkrankung möglicherweise begünstigen – die meisten Arten des Turnens zum Beispiel –, und das Reagieren bei Schmerzen (die manche Heranwachsende ebenfalls für sich behalten) sind wichtig.
Die Skoliosen lassen sich vor allem im sogenannten Vorbeugetest aufdecken, bei dem sich das Kind nach vorne beugt mit den Händen in Richtung Boden und den Kopf senkt. So kann von hinten das Rückenprofil betrachtet werden (Abb. 3). Sogenannte Rippenbuckel oder Lendenwülste (Aufwerfungen einer Seite neben der Wirbelsäule) geben Hinweise auf Skoliosen, die in der Betrachtung beim normalen Stehen untergehen könnten. Diese Untersuchung wird daher auch bei Kinderärzten häufig eingesetzt und ist bei einer kinderorthopädischen Vorstellung für mich immer Teil einer globalen Untersuchung, selbst wenn sich das Kind wegen Füßen oder Sonstigem vorstellt (siehe unten).
Zusammenfassend hat für die Entwicklung der Wirbelsäule und des Rumpfes sowie für das Aufdecken möglicher Störungen die klinische Untersuchung einen hohen Stellenwert. Aus diesem Grund sollte bei jedem Kind und Heranwachsenden wiederholt nach Zeichen für die oben genannten Erkrankungen gesucht werden. Wie bei allen anderen orthopädischen Untersuchungen gilt auch hier, dass sich Veränderungen oft nicht durch die Bekleidung ausreichend untersuchen lassen („keine Diagnose durch die Hose“).
X- und O-Beine, Beinlängendifferenzen, Torsionsfehler
O-Beine werden in höherem Alter mit dem Auftreten einer medialen, also innenseitigen Arthrose der Kniegelenke assoziiert. Bei X-Beinen ist der Zusammenhang nicht ganz so klar, aber bei extremen Fehlstellungen kann auch hier ein vorzeitiger Verschleiß oder eine erhöhte Verletzungsgefahr resultieren. Wichtig, um einschätzen zu können, was bei Kindern „sein darf“ und was nicht, ist daher zunächst einmal das Wissen um die normale Entwicklung bestimmter Parameter während des Wachstums.
Achsen: Neugeborene und Säuglinge haben häufig zunächst einmal O-Beine. Diese verlieren sich in der Regel vor dem zweiten Geburtstag und gehen dann in die andere Richtung, nämlich ins X-Bein. Selten können O-Beine auch bis zum dritten oder vierten Geburtstag bestehen bleiben, wobei dann empfohlen wird, zum Ausschluss möglicher Erkrankungen (Morbus Blount, Phosphatdiabetes, Rachitis etc.) eine kinderorthopädische Vorstellung vorzunehmen. Die X-Beine halten sich dann in der Regel bis vor der Pubertät, wobei spätestens dann die Achsstellung wieder ausgeglichen sein sollte. Bei ausgeprägten X-Beinen kann eine Vorstellung bei einem Kinderorthopäden Sinn machen, da sich im Rahmen des pubertären Wachstumsschubes das Wachstum mit einer sogenannten Epiphysiodese (Klammerung der Wachstumsfuge zum Ausgleich von Fehlstellungen und Beinlängendifferenzen) zur Begradigung nutzen lässt.
Beinlängendifferenzen sind per se häufig, und über die Grenze, ab der eventuell behandelt werden sollte, gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen. Während einige Autoren bei einer Beinlängendifferenz von unter zwei Zentimetern keine Behandlungsnotwendigkeit sehen, sprechen manche Studien davon, dass innerhalb dieses Rahmens vermehrt z. B. mit Rückenschmerzen gerechnet werden muss. Zwei Betrachtungen sind hierbei auch noch wichtig: 1,5 cm Beinlängendifferenz mag für einen 1,90 m großen Menschen unproblematisch sein, nicht aber für ein 1,20 m großes Kind. Außerdem haben wir es bei Kindern mit einem wachsenden Organismus zu tun, der ggf. durch eine Asymmetrie auch Anschlussprobleme hervorrufen kann.
Beinlängendifferenzen lassen sich klinisch am besten mit der sogenannten Brettchenmethode untersuchen: Dabei wird von hinten der Stand beider Beckenkämme und der Spina iliaca posterior superior mit den Händen identifiziert, und dann wird mit Holzbrettchen unter dem kürzeren Bein so lange ausgeglichen, bis das Becken gerade steht. Messungen im Liegen und eine Einschätzung der Hüftgelenkbeweglichkeit sind ebenfalls notwendig, um reale von funktionellen Differenzen zu unterscheiden. Die Möglichkeiten einer Behandlung sind vielfältig. In schwereren Fällen empfiehlt sich eine Einschätzung vom Spezialisten: Sowohl wachstumslenkende Verfahren (Epiphysiodese) als auch Beinverlängerungen (z. B. mit magnetischem Teleskopnagel) sind möglich.
Torsionsdifferenzen: Von Bedeutung ist hier vor allem die Torsion (Drehung) des Ober- und Unterschenkels. Die femorale Antetorsion (der Schenkelhals des Femurs ist gegenüber der Achse des Femurs nach vorne gedreht) beträgt bei der Geburt durchschnittlich 30° und nimmt kontinuierlich und im Rahmen von zwei Derotationsschüben bis zum Erwachsenenalter ab. Bei der Antetorsion gibt es erhebliche interindividuelle Unterschiede. Eine häufige Beobachtung ist der an sich gutartige (mit wenigen Ausnahmen) sogenannte Innenrotationsgang, bei dem die Kniescheiben aufgrund einer erhöhten Antetorsion beim Gehen nach innen zeigen. Im Gegensatz zur sogenannten Retroversion des Femurs (die Schenkelhälse sind gegenüber der Femurachse nach hinten gedreht), die eine Präarthrose darstellt, ist eine erhöhte Antetorsion in der Regel keine Ursache für spätere Probleme.
Zusammenfassend zeigt sich auch bei der Beurteilung der Beinachsen und -drehung sowie von Beinlängendifferenzen die große Bedeutung der klinischen Untersuchung für die Prävention späterer Probleme bei Kindern und Jugendlichen. Im Zweifelsfall hilft die Vorstellung bei einem Kinder- und Jugendorthopäden, um Varianten des normalen Wachstums von tatsächlichen Deformitäten zu unterscheiden.
Fußdeformitäten
Dem Fuß kommt nicht nur beim Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen eine wichtige Bedeutung zu. Nicht alle auffälligen Befunde führen automatisch zu Problemen im Erwachsenenalter. Die Untersuchung hat u. a. den Zweck, Normvarianten von pathologischen Befunden abzugrenzen. Geachtet wird hier z. B. auf:
- Knicksenkfuß bzw. Knickplattfuß (Ausmaß, Schmerzen, rigide oder flexibel):
- Behandlung des Klumpfußes nach Ponseti als Prävention vom Kind bis zum Erwachsenen
- Juveniler Hallux valgus (im Wachstumsalter Möglichkeit der Wachstumslenkung)
- Brachymetatarsie
- Tarsale Coalitionen und viele andere mehr
Die Entscheidung zur Behandlung, zur Beobachtung oder das Feststellen eines Befundes, der als normal gelten kann, liegen hierbei in der Hand des erfahrenen Kinderorthopäden.
Standardisierte Untersuchung als präventive Maßnahme
Kinder sollten in jedem Alter einer standardisierten Untersuchung unterzogen werden, um frühzeitig Probleme zu erkennen. Eine solche Untersuchung umfasst u. a.:
- Beobachtung des Gangbildes und der Haltung
- Beckenstand, Beinlänge
- Beweglichkeit der oberen und unteren Extremität
- differenzierte Standarten (Zehenspitze, Hacke) z. B. zum Erkennen eines rigiden Knickfußes (Abb. 4)
- Vorbeugetest der Wirbelsäule (Abb. 3)
- klinische Messung der Torsion des Ober- und Unterschenkels
- Bestimmung der Beinachsen
Fazit
Kindheit und Jugend stellen aufgrund des Wachstums besondere Anforderungen an die Medizin. Gerade um spätere Probleme zu verhindern, ist die kinderorthopädische Untersuchung in diesem Sinne Prävention – und zur Beruhigung, dass trotz Auffälligkeit alles in Ordnung ist, sind wir Kinderorthopäden ebenfalls da.