Oktober 2025 – Ausgabe 46
Prävention von Allergien im Kindesalter: Ein umfassender Ansatz
Dr. med. Verena Mandelbaum
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Allergien sind weltweit auf dem Vormarsch und stellen eine erhebliche Belastung für die Betroffenen und das Gesundheitssystem dar. Aktuell sind in Europa 150 Millionen Menschen allergisch. Experten zufolge könnte diese Zahl in den nächsten zehn Jahren auf 250 Millionen steigen. Besonders häufig betroffen sind Kinder und Jugendliche, aktuell leidet bereits jedes dritte Kind an einer Allergie. Somit ist die Prävention von Allergien im Kindesalter von großer Bedeutung, da frühzeitige Maßnahmen das Risiko einer Entwicklung oder Verschlechterung allergischer Erkrankungen deutlich reduzieren können. Insbesondere ist die Prävention des „Etagenwechsels“ wichtig, der sogenannten Verlagerung der ursprünglich allergischen Symptome der Nase auf die Lunge. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich ein Asthma bronchiale entwickelt mit einem nicht umkehrbaren Umbau der Atemwege.
Dieser Fachbeitrag beleuchtet die aktuellen Erkenntnisse und Empfehlungen zur Allergieprävention bei Kindern. Mit langjähriger Erfahrung und internationaler Expertise durch Kongresse und Fortbildungen widmen wir uns diesem Thema und seinen neuesten Entwicklungen in unserer Spezialpraxis für Asthma und Allergien bei Kindern und Jugendlichen in der ATOS Klinik Heidelberg.
Die Komplexität der Allergieentstehung
Allergien sind fehlgeleitete Immunreaktionen auf eigentlich harmlose Substanzen, sogenannte Allergene. Die Entstehung einer Allergie ist ein komplexes Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen. Kinder mit allergischen Eltern haben ein höheres Risiko, selbst Allergien zu entwickeln. Pro Elternteil ist die Wahrscheinlichkeit 30 %, dass bei elterlicher Allergie das Kind ebenfalls an einer Allergie leidet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Allergie unausweichlich ist. Vielmehr bieten sich zahlreiche Ansatzpunkte für präventive Maßnahmen, die das Risiko mindern können.
Primäre Prävention: Vor der Sensibilisierung
Die primäre Prävention zielt darauf ab, die Entstehung einer Allergie von vornherein zu verhindern, indem der Kontakt mit Allergenen vermieden oder das Immunsystem so moduliert wird, dass es nicht allergisch reagiert.
Stillen als Schutzfaktor: Muttermilch ist die ideale Nahrung für Säuglinge und bietet zahlreiche gesundheitliche Vorteile, darunter auch einen gewissen Schutz vor Allergien. Es wird empfohlen, Säuglinge in den ersten vier bis sechs Monaten ausschließlich zu stillen. Die in der Muttermilch enthaltenen Antikörper und immunmodulierenden Substanzen können das unreife Immunsystem des Kindes positiv beeinflussen. Wenn Stillen nicht möglich ist, sollte bei Kindern mit hohem Allergierisiko eine hypoallergene (HA) Säuglingsnahrung in Betracht gezogen werden. Beikosteinführung: Keine Angst vor Allergenen! Lange Zeit wurde empfohlen, potenziell allergene Lebensmittel, wie Erdnüsse, Eier oder Fisch, im ersten Lebensjahr zu meiden. Neuere Studien haben jedoch gezeigt, dass eine frühzeitige Einführung dieser Lebensmittel, idealerweise zwischen dem vierten und sechsten Lebensmonat, das Allergierisiko sogar senken kann. Dies gilt insbesondere für Erdnüsse, bei denen eine frühe und regelmäßige Exposition das Risiko einer Erdnussallergie signifikant reduziert. Die Einführung sollte schrittweise und unter Beobachtung erfolgen (Abb. 1).
Darmmikrobiom und Immunsystem: Das Darmmikrobiom, die Gesamtheit der Mikroorganismen im Darm, spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Immunsystems. Eine vielfältige und gesunde Darmflora im frühen Kindesalter wird mit einem geringeren Allergierisiko in Verbindung gebracht. Faktoren, die das Darmmikrobiom positiv beeinflussen, sind u. a. vaginale Geburt, Stillen und eine ausgewogene Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft und Stillzeit. Probiotika und Präbiotika werden in der Forschung intensiv untersucht, ihre präventive Wirkung ist jedoch noch nicht eindeutig belegt.
Umfeld und Hygienehypothese: Die „Hygienehypothese“ besagt, dass eine übermäßige Hygiene und ein Mangel an Kontakt mit Gleichaltrigen in der frühen Kindheit zu einer Fehlentwicklung des Immunsystems führen können, was das Allergierisiko erhöht. Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen oder frühzeitig Kontakt zu Tieren haben, zeigen oft ein geringeres Allergierisiko. Dies bedeutet nicht, dass Hygiene vernachlässigt werden sollte, sondern dass ein ausgewogener Kontakt mit der natürlichen Umwelt und mit Mikroorganismen förderlich sein kann.
Sekundäre Prävention: Nach der Sensibilisierung
Die sekundäre Prävention setzt ein, wenn bereits eine Sensibilisierung gegen ein Allergen vorliegt, aber noch keine ausgeprägten Symptome aufgetreten sind. Ziel ist es, die Entwicklung einer klinisch relevanten Allergie zu verhindern oder deren Schweregrad zu mindern.
Allergenkarenz bei bestätigter Allergie: Bei einer bereits diagnostizierten Allergie ist die konsequente Vermeidung des auslösenden Allergens die wichtigste Maßnahme. Dies gilt insbesondere für Nahrungsmittelallergien, bei denen selbst kleinste Mengen schwere Reaktionen auslösen können. Eltern sollten über die richtige Kennzeichnung von Lebensmitteln und die Vermeidung von Kreuzkontaminationen aufgeklärt werden.
Exposition gegenüber Haustieren: Die Rolle von Haustieren in der Allergieprävention ist komplex. Während einige Studien darauf hindeuten, dass der frühe Kontakt mit Hunden und Katzen das Allergierisiko senken kann, ist dies nicht bei allen Kindern der Fall. Bei einer bereits bestehenden Sensibilisierung oder Allergie gegen Tierhaare ist die Allergenkarenz ratsam.
Reduktion der Hausstaubmilbenexposition: Hausstaubmilben sind eine häufige Ursache für Atemwegsallergien. Bei Kindern mit einem Risiko für eine Hausstaubmilbenallergie können Maßnahmen zur Reduktion der Milbenexposition sinnvoll sein. Dazu gehören milbendichte Bettbezüge, regelmäßiges Waschen der Bettwäsche bei hohen Temperaturen und eine gute Belüftung der Wohnräume.
Tertiäre Prävention: Umgang mit bestehenden Allergien
Die tertiäre Prävention befasst sich mit der Behandlung und dem Management bereits bestehender allergischer Erkrankungen, um Symptome zu lindern, Komplikationen zu vermeiden und die Lebensqualität der Kinder zu verbessern. Dies umfasst medikamentöse Therapien, Allergen-Immuntherapie (Hyposensibilisierung) und die Schulung von Eltern und Kindern im Umgang mit der Allergie.
Hier wird der enge Kontakt mit Spezialisten empfohlen, die durch frühzeitige Diagnose und dann gezielte Therapie ein Fortschreiten der Allergie aufhalten können. Die seit Jahren bewährte Immuntherapie mittels monatlicher Spritze oder seit Neuestem auch einer täglichen Tablette kann bereits ab fünf Jahren gegen Gräser, Milben und frühblühende Bäume, wie Birke, Erle und Hasel, durchgeführt werden. Andere Allergien wie gegen Schimmelpilz und Katze oder die lebensbedrohliche Bienen-/Wespen-Allergie lassen sich ebenfalls erfolgreich mit einer Spritzentherapie behandeln (Abb. 2).
Entscheidend für den optimalen Erfolg ist vor Therapiestart die genaue Bestimmung des vorhandenen Allergenspektrums. Hierzu verwenden wir in unserer Spezialpraxis im eigenen Allergielabor den ALEX2-Multilayer-Allergietest, bei dem mit einem Fingerpieks 295 Allergene untersucht werden können. So kann genau abgewogen werden, welches Allergen gezielt eliminiert werden muss.
Zukünftige Perspektiven und Forschung
Die Forschung im Bereich der Allergieprävention ist dynamisch. Neue Erkenntnisse über die Rolle des Mikrobioms, die Bedeutung von Vitamin D, die Auswirkungen der Umweltverschmutzung und die Entwicklung neuer immunmodulierender Therapien versprechen weitere Fortschritte. Insbesondere der Einsatz von Biologika bei schweren allergischen Krankheitsbildern, wie schwerem Asthma bronchiale, chronischer Rhinitis mit Nasenpolypen oder erheblich belastender Neurodermitis, kann den Leidensdruck der Patienten lindern und eine zunehmende Verschlechterung im weiteren Verlauf vermeiden. Teilweise ist damit sogar die Ausheilung von diesen Erkrankungen möglich. Das war vor dem Einsatz der Biologika nicht vorstellbar.
„Aktuell leidet bereits jedes dritte Kind an einer Allergie – somit ist die Prävention von Allergien von großer Bedeutung!“
Fazit
Die Prävention von Allergien im Kindesalter ist ein vielschichtiges Thema, das einen umfassenden Ansatz erfordert. Stillen, eine frühzeitige und schrittweise Einführung potenziell allergener Lebensmittel, die Förderung eines gesunden Darmmikrobioms und ein ausgewogener Kontakt mit der natürlichen Umwelt sind wichtige Säulen der primären Prävention. Bei bereits bestehender Sensibilisierung sind gezielte Maßnahmen zur Allergenkarenz entscheidend.
Eine frühzeitige Diagnostik bei Verdacht auf Allergie ist wichtig. Das ist bereits vor dem Kindergartenalter möglich mit einem Fingerpieks. Eine konsequente Therapie kann nicht nur Symptome lindern, sondern es ist entscheidend, dass auch die Ursache der Allergie behandelt wird. Viele Immuntherapien sind heute sehr effektiv – die Einnahme einer täglichen Tablette reicht oft bereits aus. Selbst schwere, bislang kaum therapierbare Folgeerkrankungen können durch Antikörper und Biologika erfolgreich behandelt werden. Die Prävention lebenslanger Einschränkungen der Patienten wird durch die vertrauensvolle, enge Zusammenarbeit zwischen Familien und allergologisch geschulten Kinderärzten ermöglicht.