Mai 2023 – Ausgabe 41

Polymyalgia rheumatica und Riesenzellarteriitis: typische rheumatische Erkrankungen bei Menschen ab 50 Jahren

Dr. med. Verena Schmitt
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Dr. med. Ines Dornacher
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Schlüsselwörter: Polymyalgia rheumatica, Riesenzellarteriitis, Visusverlust, Muskelschmerz, Kopfschmerz, Glukokortikoidtherapie

Die Polymyalgia rheumatica (PMR) und Riesenzellarteriitis (RZA bzw. Giant Cell Arteriitis, GCA) sind verwandte entzündliche Erkrankungen unbekannter Ätiologie, die bei Menschen ab dem 50. Lebensjahr auftreten können und ihren Häufigkeitsgipfel im siebten Lebensjahrzehnt haben. Während die PMR nicht mit strukturellen Organschäden einhergeht, können bei der RZA schwere Komplikationen auftreten. Daher ist schon bei Verdacht auf RZA die rasche Einleitung der Therapie entscheidend.

Die PMR wurde erstmals 1888 beschrieben, die RZA kurze Zeit später (1890) als „Arteritis of the aged“ publiziert und später von Horton et al. histologisch charakterisiert. Bei der RZA sind hauptsächlich die großen und mittelgroßen Arterien betroffen. Die Bezeichnung „Arteriitis temporalis“ wurde mit der international gebräuchlichen Chapel Hill Consensus Conference (CHCC 1994)- Nomenklatur verlassen, da nicht bei allen RZA-Patienten die Arteria temporalis betroffen ist. PMR und GCA können gemeinsam auftreten. Etwa 50 % der GCA- Patienten haben auch eine PMR und etwa 18 % der PMR-Patienten auch eine GCA. Beide Erkrankungen sind manchmal nicht einfach zu diagnostizieren, können mit einem hohen Leidensdruck einhergehen, die RZA auch mit schwerem Visusverlust. Ein rascher Behandlungsbeginn ist für den Krankheitsverlauf entscheidend. Im Folgenden werden deshalb wichtige Aspekte beider Erkrankungen besprochen.

Häufigkeit

Frauen sind bei beiden Erkrankungen häufiger betroffen. Eindeutige epidemiologische Zahlen zur PMR in Deutschland liegen nicht vor; man geht von einer durchschnittlichen Jahresinzidenz von etwa 19/100.000 Einwohnern im Alter von über 50 Jahren aus.

Die RZA ist die häufigste systemische Vaskulitis, die jährliche Inzidenz wird mit 3,5 auf 100.000 Einwohner pro Jahr in der Altersgruppe über 50 Jahre angegeben. Sowohl die PMR als auch die RZA zeigen in Europa ein deutliches Nord-Süd-Gefälle, in den skandinavischen Ländern findet man die höchsten Erkrankungsraten.

Typische Symptome

Beide Erkrankungen – PMR und RZA – werden häufig von Müdigkeit, Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust und auch von Depressionen begleitet.

Typisch für die PMR sind plötzlich auftretende, symmetrische, stammnahe Muskelschmerzen (Verteilung siehe Abb. 1) mit Steifigkeit und Kraftverlust, gelegentlich auch von einer Mon- oder Oligoarthritis begleitet.

Bei der RZA hängt die Symptomatik von den betroffenen Gefäßen ab. Es gibt zwei Phänotypen: die kraniale RZA und die Großgefäß-RZA. Bei kranialem Befall finden sich typischerweise ein- oder beidseitige, bohrend-stechende Kopfschmerzen und Kaubeschwerden (Claudicatio masticatoria). Bei etwa 20% der kranialen Verlaufsformen kommt es durch Mitbeteiligung der Arteria ophthalmica zu einer Sehverschlecherung bis zu einem akuten Sehverlust. Bei Patienten mit einer Großgefäß-RZA kann es eine Herausforderung sein, diese zu erkennen, da die klinischen Anzeichen weniger spezifisch sind. Hinweisend sind ein asymmetrischer Blutdruck an den oberen Extremitäten, das Fehlen der peripheren Radial- bzw. Fußpulse, Claudicatio-Beschwerden der oberen/unteren Gliedmaßen, auskultierbare Herz- oder Gefäßströmungsgeräusche.

Komplikationen

Während es bei der PMR zu keinen strukturellen Organschäden kommt, können bei der RZA schwere Komplikationen auf- treten:

  1. Die Arteritiische Anteriore Ischämische Optikusneuropathie (AAION). Dabei kommt es zu einem akuten Verschluss einer den Sehnerven versorgenden Augenarterie, der bei mindestens 85 % der Fälle die Visusstörung bei RZA- Patienten verursacht.
  2. Das Risiko für die Entwicklung eines thorakales Aortenaneurysmas ist bei RZA-Patienten bis zu 17-mal höher und für ein isoliertes abdominales Aortenaneurysma etwa zweimal höher als bei nicht von RZA betroffenen Personen gleichen Alters und Geschlechts.

Labordiagnostik

Es gibt keine spezifischen Laborwerte für die PMR und die RZA. Die Blutsenkung und/oder das CRP sind bei einer PMR und einer RZA fast immer erhöht, bei der RZA in ca. 96 % der Fälle. Dies bedeutet aber auch, dass unauffällige Entzündungswerte eine PMR und eine RZA nicht sicher ausschließen. Weitere internistische und rheumatologische Laborparameter können hilfreich sein, um differentialdiagnostisch relevante Erkrankungen erkennen zu können, die eine PMR bzw. RZA imitieren können.

Weitere diagnostische Kriterien:

Die typische Anamnese bei der PMR mit akut einsetzenden stammnahen Myalgien, einer deutlichen Morgensteifigkeit und das typische klinische Bild mit eingeschränkter Beweglichkeit im Schulter- bzw. Hüftbereich bei Patienten > 50 Jahren (Abb. 1) sind neben erhöhten Entzündungswerten bei der Diagnose- stellung entscheidend.

Hilfreich sind die in Tabelle 1 aufgeführten Klassifikationskriterien, bei denen auch Arthrosonographie-Befunde (Synovitis/ Bursitis/Tenosynovitis an Schulter/Hüfte) Beachtung finden.

Auch für die RZA ist die Anamnese richtungsweisend (siehe Tabelle 2, Red flags). Die Diagnose einer RZA sollte bei Patienten über 50 Jahren in Betracht gezogen werden, die eines oder mehrere der Symptome oder Anzeichen aus Tabelle 2 aufweisen, insbesondere im Zusammenhang mit erhöhten Entzündungswerten.

Bei der klinischen Untersuchung impo- niert bei der kranialen RZA eine prominente, meist verhärtete Schläfen-/ Stirnarterie (Abb. 2).

Die Farbduplexsonographie-Untersuchung des Kopfes, des Halses und der oberen Extremitäten ist die Bildgebung der Wahl und kann bei positivem Befund die früher übliche Biopsie der Schläfenarterie in der Diagnostik ersetzen. Typische sonographische Zeichen der RZA sind, wie in Abb. 3 zu sehen, das „Halo- Zeichen“, ein im Querschnitt um das Gefäßlumen umlaufend dunkler Bereich, das einem Wandödem entspricht, und das negative „Kompressionszeichen“, d. h. die anhaltende Sichtbarkeit des Halos bei Kompression des Gefäßlumens durch die Ultraschallsonde. Der Ultraschall ist die primäre bildgebende Diagnostik. Sie ist nicht invasiv, mit keiner Strahlenbelastung verbunden und weitere kraniale Arterien (z. B. die Gesichts-, Okzipital- und Vertebralarterien) können dargestellt werden. Die Untersuchung der Art. axillaris, subclavia, Aorta, Art. femo- ralis kann Hinweise auf eine Großgefäß-RZA liefern.

Eine hochauflösende Magnetresonanztomographie (MRT) mit MR-Angiographie (MRA) kann die Schläfenarterien bei einer Entzündung sichtbar machen (Abb. 4). Eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET), Angio-MRT oder Angio-CT thorakoabdominal kann bei der Diagnostik einer Großgefäß-RZA notwendig werden.

Eine Biopsie der Arteria temporalis erfolgt nur noch in Ausnahmefällen; typischerweise findet sich eine granulomatöse Vaskulitis mit Nachweis von sog. Riesenzellen.

Differenzialdiagnosen

PMR: Die Liste der Differenzialdiagnosen ist umfangreich: andere rheumatische Erkrankungen wie z. B. Rheumatoide Arthritis bei gelenkbezogenen Symptomen (auch Überlappungs-Diagnosen sind möglich), rheumatische oder neurologische Muskelerkrankungen, muskuloskelettale Erkrankungen, Medikamenten-induzierte Myalgien/Myositiden (z. B. Statin-induziert), paraneoplastische Syndrome bei Tumorerkrankungen, die eine PMR imitieren können, Schmerzsyndrome etc.

RZA: Die Differenzialdiagnose der RZA umfasst andere Vaskulitiden (z. B. Takaya- su-Arteriitis, Vaskulitiden der kleinen und mittleren Gefäße, primäre Angiitis des Zentralnervensystems), nicht-arteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie (NAAION) und Infektionen.

Therapie

Eine Glukokortikoidtherapie ist bei beiden Erkrankungen die erste Maßnahme, um eine rasche Remission zu erreichen. Bei der PMR wird in der Regel mit einer Dosis von 20 mg Prednison-Äquivalent begonnen. Zur rascheren Glukokortikoideinsparung werden in der Regel frühzeitig Basistherapeutika wie Methotrexat und Leflunomid im Verlauf hinzugenommen.

Bei der RZA muss eine systemische Glu- kokortikoidtherapie (ca. 1 mg/kg Körpergewicht Prednison-Äquivalent) schon bei einer Verdachtsdiagnose begonnen werden, um die Symptome zu lindern und einen Sehverlust zu verhindern. Die Diagnostik-Planung darf die Einleitung der Behandlung nicht verzögern. Die Farb- duplex-Sonographie sollte so früh wie möglich nach Beginn der Therapie durchgeführt werden, da die Glukokortikoid- Therapie eine rasche Wirkung erzielt und die Sensitivität der RZA-Diagnostik verringert. Eine Biopsie der Schläfenarterie kann gegebenenfalls noch innerhalb der ersten zwei Wochen nach Therapiebeginn zur Diagnosesicherung erfolgen.

Patienten mit visuellen Manifestationen (Amaurosis fugax bzw. Sehverlust) oder mit zerebrovaskulären Ereignissen (z. B. Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke), die möglicherweise auf eine RZA zurückzuführen sind, benötigen initial eine hochdosierte intravenöse Methylprednisolon-Therapie (500 bis 1000 mg/Tag i. v. täglich über drei Tage). Um die Glukokortikoid-bedingten Nebenwirkungen zu minimieren und Komplikationen der RZA zu vermeiden, kommt in vielen Fällen Methotrexat oder auch eine Biologikatherapie mit dem Interleukin 6-Blocker Tocilizumab zum Einsatz.

Zum Einsatz von Thrombozytenaggregationshemmern wie ASS bezüglich der Prävention ischämischer Ereignisse bei RZA-Patienten existieren nur wenige Daten; eine allgemeine Therapie-Empfehlung gibt es nicht.

Da bei der PMR und der RZA eine länger andauernde Glukokortikoid-Behandlung erforderlich ist, sollte zur Osteoporose- Prävention auf eine angemessene Vitamin-D- und Kalzium-Zufuhr geachtet werden. Auch eine Knochendichtemessung mittels DEXA (Dual Energy X-ray Absorptiometry)-Verfahren ist zu Beginn und je nach Befund und Dauer der Therapie erneut im Verlauf sinnvoll.

Prognose und Verlauf

Bei beiden Erkrankungen berichten die Patienten in der Regel bereits innerhalb von 24 bis 48 Stunden nach der ersten Glukokortikoid-Verabreichung über eine Verbesserung vieler PMR- bzw. RZA- bezogener Symptome wie Myalgien, Kopfschmerzen, Krankheitsgefühl.

Bei der PMR beträgt die Therapiedauer etwa 1-1,5 Jahre, in denen die Prednisolondosis langsam reduziert und ausgeschlichen wird. Es gibt keine Hinweise auf einer erhöhte Sterblichkeit im Zusammenhang mit einer PMR; sie verursacht keine strukturellen Schäden. Wird die Erkrankung erkannt und behandelt, ist die Prognose meist gut.

Der Verlauf der RZA ist variabel und kann ein bis zwei Jahre andauern, aber auch über viele Jahre chronisch verlaufen. Bei der Mehrzahl der RZA-Patienten kann die Glukokortikoid-Dosis schrittweise reduziert und die Therapie beendet werden. Ein Teil benötigt jedoch über mehrere Jahre niedrig dosiert Prednison, um die Symptome zu kontrollieren. Die RZA reduziert in der Regel nicht die Lebenserwartung hat, mit Ausnahme der Patienten mit Aortenbeteiligung.

Die PMR und die RZA sind rheumatologische Erkrankungen, jedoch ist insbesondere bei der RZA eine interdisziplinäre Diagnostik und Betreuung zwischen der Rheumatologie, der Angiologie, der Ophtalmologie, der Radiologie und weiteren Fachrichtungen entscheidend.