Oktober 2024 – Ausgabe 44

Off-Label-Use von Medikamenten als besondere Therapieoption

Brünsing

Dr. med. Jan Brünsing
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Schlüsselwörter: Off-Label-Use, Arzneimittelsicherheit, Patientenaufklärung, Aripiprazol

Der „Off-Label-Use“ von Medikamenten, also die Anwendung von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Indikationen, wird oft dann in Betracht gezogen, wenn keine zugelassenen Alternativen verfügbar sind oder wenn bestehende Behandlungsmöglichkeiten unzureichend sind oder bereits ausgeschöpft wurden. Allerdings sind mit Off-Label-Use auch erhebliche Risiken verbunden. Dieser Beitrag beleuchtet die Chancen und Risiken des Off-Label-Use, die Bedeutung der Patientenaufklärung und die Limitationen, die sowohl Ärzte als auch Patientinnen und Patienten berücksichtigen müssen.

Chancen des Off-Label-Use

Innovative Behandlungsmöglichkeiten

Off-Label-Use ermöglicht es Ärzten, innovative Behandlungsmöglichkeiten zu erschließen, insbesondere bei seltenen oder schwer zu behandelnden Erkrankungen. Der Off-Label-Use von Medikamenten kann lebensrettend sein oder die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten erheblich verbessern. Und nicht selten sind die gängigen Methoden in der ärztlichen Praxis auch ein Off-Label-Use, der ubiquitär durchgeführt wird: Das alte Antibiotikum Erythromycin hat eine „beliebte Nebenwirkung“ im Fachbereich der Gastroenterologie: Als starkes Prokinetikum sorgt es vor notfälligen Magenspiegelungen für eine sehr schnelle Magenentleerung. Eine Zulassung hierfür gibt es nicht, dennoch ist es vermutlich auf jeder internistischen Intensivstation vorrätig. Eine Zulassungserweiterung wird vermutlich auch nie kommen, Studien sind aufwendig und teuer, und mit fehlendem Patentschutz ist die Gewinnmarge minimal.

Individualisierte Therapie

Durch den Off-Label-Use können Therapien besser an die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten angepasst werden. Dies ist besonders relevant in der Onkologie, wo personalisierte Medizin zunehmend an Bedeutung gewinnt. Hier können bestimmte Chemotherapeutika oder zielgerichtete Therapien Off-Label angewendet werden, basierend auf genetischen Profilen oder molekularen Charakteristika des Tumors.

Schnellere Verfügbarkeit neuer Therapien

Die Entwicklung und Zulassung neuer Medikamente ist ein langwieriger und kostspieliger Prozess. Off-Label-Use ermöglicht es, vielversprechende neue Therapien schneller in die klinische Praxis zu integrieren, noch ehe Zulassungsverfahren abgeschlossen sind. Dies ist besonders in Notfallsituationen von Bedeutung, wie etwa bei der Behandlung von seltenen oder schwerwiegenden Infektionskrankheiten.

Risiken des Off-Label-Use

Ein zentrales Risiko des Off-Label-Use besteht in der oft unzureichenden wissenschaftlichen Evidenz bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit der Medikamente in der neuen Indikation. Viele Off-Label-Anwendungen basieren auf Fallberichten, kleinen Studien oder präklinischen Daten. Dies kann zu Unsicherheiten bezüglich der optimalen Dosierung, Nebenwirkungen und Langzeitfolgen führen.

Die Anwendung von Medikamenten außerhalb ihrer zugelassenen Indikation wirft außerdem vor allem rechtliche und ethische Fragen auf. Ärzte müssen sich bewusst sein, dass sie im Falle von Off-Label-Use stärker in der Haftung stehen und die Aufklärung und Einwilligung der Patientinnen und Patienten besonders sorgfältig dokumentieren müssen. In der Praxis des Verfassers wird eine dokumentierte Patientenaufklärung genutzt, Vordrucke gibt es von einigen Anbietern dieser sinnvollen Dokumente auch für den Bereich „spezielle Therapie“ oder „Off-Label-Use“. Immer erfordert ein besonderer Einsatz eines Medikamentes eine umfassende Aufklärung der Patientinnen und Patienten über die Off-Label-Anwendung, ihre potenziellen Risiken und den „experimentellen Charakter“ der Behandlung.

Da die Sicherheit von Medikamenten in Off-Label-Anwendungen oft nicht umfassend untersucht wurde, besteht ein erhöhtes Risiko für unerwartete Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Dies kann insbesondere bei polypharmazeutisch behandelten Patientinnen und Patienten problematisch sein, die bereits mehrere Medikamente einnehmen. Allerdings sind viele Substanzen, die für den Off-Label- Use geeignet sind, über Jahrzehnte am Markt, sodass neue oder andere Nebenwirkungen eher unwahrscheinlich sind, als man beim In-Label-Gebrauch erwarten würde. Das schon sehr alte Antidepressivum Amitryptilin macht etwa (eigentlich eine Nebenwirkung) sehr müde – und wird gerne bei Schlafstörungen eingesetzt. Andere Nebenwirkungen kommen aber durch diesen Einsatz in seiner „anderen Indikation“ in der Regel nicht vor.

Patientenaufklärung

Eine gründliche und transparente Patientenaufklärung ist beim Off-Label-Use von entscheidender Bedeutung. Patientinnen und Patienten müssen verstehen, dass die Anwendung des Medikaments außerhalb der zugelassenen Indikation erfolgt und welche spezifischen Risiken und Ungewissheiten damit verbunden sind. Dies umfasst auch die Aufklärung über mögliche Alternativen und den experimentellen Charakter der Behandlung.

Das Aufklärungsgespräch sollte umfassend und patientenzentriert sein. Ärzte sollten sicherstellen, dass die Patientinnen und Patienten alle relevanten Informationen verstehen und ausreichend Zeit für Fragen haben. Ihre schriftliche Einwilligung ist (wie bei allen ärztlichen Maßnahmen) immer wichtig und sollte detailliert dokumentiert werden, einschließlich der besprochenen Risiken und Alternativen.

Eine offene und ehrliche Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist der Schlüssel, um Vertrauen aufzubauen und eine informierte Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Patientinnen und Patienten sollten ermutigt werden, ihre Bedenken und Erwartungen zu äußern, und Ärzte sollten diese ernst nehmen und in ihre Behandlungsentscheidungen einbeziehen.

Limitationen des Off-Label-Use

Ein wesentlicher limitierender Faktor für den Off-Label-Use ist das regulatorische Umfeld. Obwohl Ärzte in vielen Ländern die rechtliche Möglichkeit haben, Medikamente Off-Label zu verschreiben, können Einschränkungen durch Krankenkassen oder andere Kostenträger die Verfügbarkeit und Erstattung solcher Anwendungen einschränken. Dies kann insbesondere bei teuren Therapien zu erheblichen Hürden führen. In der Praxis des Verfassers werden einige Patientinnen und Patienten mit ADHS im Erwachsenenalter erfolgreich mit Cannabis behandelt, welches aber in bisher keinem Fall von den Versicherungen übernommen wurde. Dies ist wichtig, denn bei einigen Indikationen sind Kosten von mehreren Hundert Euro im Quartal möglich.

Der Off-Label-Use leidet oft unter einem Mangel an robusten klinischen Daten. Dies ist erwartbar, denn gäbe es große und belastbare Studien zur guten Wirksamkeit und ausreichenden Sicherheit einer Substanz X für eine „neue“ Indikation Y, wäre eine Zulassung vermutlich längst beantragt. Größere, gut konzipierte Studien sind notwendig, um die Evidenzbasis für Off-Label-Anwendungen zu stärken. Hierbei spielen klinische Register und kooperative Forschungsnetzwerke eine wichtige Rolle.

Ethik und Verantwortung

Ärzte stehen bei der Anwendung von Off-Label-Therapien vor der ethischen Herausforderung, die beste verfügbare Behandlung zu bieten, während sie gleichzeitig die Unsicherheiten und potenziellen Risiken abwägen müssen. Immer gilt das Nicht-Schadens-Gebot, oder auch „der potenzielle Nutzen muss größer sein als der mögliche erwartbare Schaden“. Dies erfordert ein hohes Maß an klinischem Urteilsvermögen und Verantwortungsbewusstsein. Off-Label-Use sollte immer im Kontext der besten verfügbaren Evidenz und im Einklang mit ethischen Prinzipien erfolgen.

Fallbeispiel aus der Praxis

Aripiprazol bei Chronischer Fatigue: ein Beispiel für Off-Label-Use

Chronische Fatigue, auch bekannt als Chronic Fatigue Syndrome (CFS) oder

„Der Off-Label-Use von Medikamenten bietet enorme Chancen, insbesondere bei schwer zu behandelnden Krankheitsbildern – erfordert aber gute Aufklärung und enge Betreuung!“

Myalgische Enzephalomyelitis (ME), ist eine komplexe Erkrankung, die durch anhaltende, extreme Müdigkeit gekennzeichnet ist. Trotz umfangreicher Forschung gibt es keine spezifisch zugelassenen Medikamente zur Behandlung von CFS. So gesehen sind alle möglichen Therapien, die man als fundierter Behandler „durchprobieren“ kann, keine zugelassenen Substanzen.

Der Off-Label-Use von Aripiprazol, einem atypischen Antipsychotikum, konnte bei einer unserer Patientinnen mit CFS nach einer Corona-Infektion („Long-Covid“) eine enorme Verbesserung der Symptomatik herbeiführen.

Aripiprazol, ursprünglich zur Behandlung von Schizophrenie und bipolarer Störung zugelassen, hat in einigen Studien und Fallberichten gezeigt, dass es die Symptome von CFS lindern kann. Patienten berichten über eine Reduktion der Müdigkeit und eine Verbesserung der kognitiven Funktionen. Die mögliche Wirksamkeit von Aripiprazol bei CFS kann auf seine Wirkung als partieller Agonist an Dopamin-D2- und Serotonin-5-HT1A-Rezeptoren und als Antagonist an 5-HT2A-Rezeptoren zurückgeführt werden.

Der Einsatz eines derart (in Patienten-Augen) „harten“ Medikamentes, einer Substanz gegen Schizophrenie, erfordert sehr umsichtige Patientengespräche, Bedenkzeit, Mut bei Behandler und Patient. Zum Einsatz kommt hier eine sehr niedrige Dosierung, 2 mg pro Tag, und entgegen den Erwartungen haben sich keine Nebenwirkungen eingestellt.

Schlussfolgerung

Der Off-Label-Use von Medikamenten bietet bedeutende Chancen, insbesondere für Patientinnen und Patienten mit speziellen und schwer zu behandelnden Krankheitsbildern. Gleichzeitig birgt er erhebliche Risiken und Herausforderungen, die sorgfältig abgewogen werden müssen. Eine gründliche Patientenaufklärung, eine transparente Kommunikation und die Berücksichtigung ethischer und rechtlicher Aspekte sind entscheidend, um den Off-Label-Use verantwortungsvoll und effektiv zu gestalten. Wichtig ist auch, dass der Behandler das Interesse hat, eine intensive Recherche über mögliche Therapieformen zu betreiben und sein Wissen immer aktuell zu halten. Schlussendlich erfordert eine Therapie „am Tellerrand“ der gängigen Leitlinien auch immer Mut von den Patientinnen und Patienten sowie den Behandlern, immer mit dem Nicht-Schadensgebot vor Augen.