Oktober 2021 – Ausgabe 38

Muskeldystrophie Duchenne – eine Muskelerkrankung des Kindesalters, die kaum jemand kennt

Dr. med. Cornelia Bußmann
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Key-Words: Muskeldystrophie Duchenne, Jungen, Muskelschwäche

In Deutschland sind neurologische Erkrankungen des Kindesalters selten ein Thema in den Medien und entsprechend gering ist der Informationsstand über Erkrankungen wie z. B. Epilepsie, Muskelerkrankungen oder Zerebralparese bei Kindern. Eine Ausnahme hat zuletzt die Muskelerkrankung spinale Muskelatrophie (SMA) gemacht, für deren Behandlung die „teuerste Spritze“ der Welt in den Medien breit diskutiert wurde.

Spätes Laufen und auf fallend kräftige Waden bei Jungen können früh auf eine Muskeldystrophie Duchenne hinweisen – was diesen Jungen jedoch nicht betrifft

Kaum jemand kennt hingegen bisher die häufigste Muskelerkrankung im Kindesalter, die (fast) ausschließlich bei Jungen auftritt, die Muskeldystrophie Duchenne (DMD). Im Rahmen der Erkrankung kommt es bereits ab der frühen Kindheit zu einer fortschreitenden Muskelschädigung (Muskelschwund), ab dem Alter von 10- 12 Jahren benötigen die Jungen einen Rollstuhl.

Häufigkeit

Die Inzidenz beträgt etwa 1 von 3.600 bis 1 von 6.000 männlichen Neugeborenen [1].

In Deutschland leben schätzungsweise 1.500 bis 2.000 Patienten mit DMD, jährlich muss mit etwa 100 Neuerkrankungen gerechnet werden.

Ursache

Bei Patienten mit einer Muskeldystrophie Duchenne führt eine Mutation im Dystrophin-Gen dazu, dass das für die Muskelhülle wichtige Protein Dystrophin nicht hergestellt werden kann. Die Zellwand der Muskeln wird instabil und löst den fortschreitenden Muskelschwund aus [2, 3].

Die Vererbung der Erkrankung verläuft X-chromosomal rezessiv. Das defekte Gen wird von der Mutter an ihren Sohn vererbt. Da die Mutter selbst zwei X-Chromosomen besitzt, äußert sich die Erkrankung bei ihr meist gar nicht oder nur in einer milden Herzschwäche, die häufig bis zur Diagnose bei ihrem Sohn unerkannt bleibt. Durch den X-chromosomalen Erbgang betrifft die Erkrankung (fast) nur Jungen. Neben der Vererbung über die Mutter ist in einem Drittel der Fälle eine Neumutation (de novo-Mutation) ursächlich [1].

Verlauf

Die Erkrankung äußert sich frühzeitig mit Verzögerungen der motorischen Entwicklung, aber auch Auffälligkeiten in der Sprach- und Spielentwicklung sind möglich.

Bereits ab der Geburt können erhöhte Blutwerte (Leberwerte / Transaminasen und das Muskelenzym CK) auf die Erkrankung hinweisen. Häufiges erstes Symptom einer Muskeldystrophie Duchenne ist ein leicht verspätetes Erlernen des freien Laufens. Ein Teil der betroffenen Jungen zeigt in den ersten ein bis zwei Lebensjahren dagegen noch keine erkennbaren motorischen Probleme. In vielen Fällen wird zunächst eine verzögerte Sprachentwicklung bei normaler geistiger Entwicklung der Jungen beobachtet. Auch Verhaltensauffälligkeiten sind möglich.

Im Kindergartenalter werden dann die motorischen Probleme deutlicher. Die Jungen fallen häufiger hin und sie sind motorisch ungeschickter als Gleichaltrige. Auch ihre Ausdauer für längere Laufstrecken nimmt ab.

Im Alter zwischen 10 bis 12 Jahren sind die Jungen in der Regel nicht mehr in der Lage, mehr als einzelne Schritte zu gehen und sind auf einen Rollstuhl angewiesen. In weiteren Verlauf kommt eine fortschreitende Schwäche der Armmuskeln hinzu. Die abnehmende Muskelkraft der Rumpfmuskulatur führt zu einer Verkrümmung der Wirbelsäule (Skoliose). Weitere betroffene Organsysteme sind im Verlauf die Atemmuskulatur und das Herz mit einer möglichen Schwäche der Pumpfunktion [4].

Typische Muskelsymptome

Das oft erste sichtbare Zeichen der betroffenen Jungen lässt zunächst keine Muskelschwäche vermuten: Es sind auf- fallend kräftig ausgebildete Waden. Diese werden allerdings durch einen bindegewebigen Umbau der Muskeln und nicht durch eine Zunahme der Muskelmasse hervorgerufen („Pseudohypertrophie“). Im Verlauf wird das Aufstehen vom Boden zunehmend schwierig. Wenn sich die Jungen nicht festhalten können, müssen sie sich beim Aufrichten an ihren eigenen Oberschenkeln abstützen (positives Gowers-Zeichen).

Im Verlauf entwickeln die Kinder ein auffälliges Gangbild, einen sogenannten „Watschelgang“ (positives Trendelenburg-Zeichen) und ein ausgeprägtes Hohlkreuz durch eine Schwäche der Bauch- und Rücken-muskulatur.

Wie erfolgt die Diagnose?

Bei Verdacht auf eine Muskelerkrankung genügt zunächst eine einfache Blutentnahme beim Kinderarzt zur Bestimmung des Muskelenzyms Kreatinkinase (CK). Dieser Wert ist bei betroffenen Jungen mehr als zehnfach erhöht. Als nächster Schritt wird dann die Diagnose mit einem genetischen Test überprüft.

Therapie

Die Erkrankung ist bisher unheilbar, aber die Lebenserwartung von DMD-Patienten konnte verbessert werden. Die frühere durchschnittliche Lebenserwartung von höchstens 20 Jahren reicht zwischenzeitlich bis ins 4. Lebensjahrzehnt. Dies ist möglich durch die Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen [5]: Durch die Behandlung mit Kortikosteroiden kann die Lauffähigkeit länger erhalten werden.

Orthopädische Maßnahmen umfassen kontrakturlösende Operationen der unteren Extremitäten und eine operative Stabilisierung der Wirbelsäule ebenso wie die Versorgung und Prophylaxe von durch Osteoporose begünstigten Frakturen. Im späteren Verlauf ist die (zunächst nur nächtliche) Unterstützung durch eine nicht-invasive Beatmung entscheidend.

Weitere wichtige Maßnahmen sind eine Unterstützung der Herz- und Lungenfunktion, die an die Alltagsbedürfnisse der Patienten angepasste Hilfsmittelversorgung sowie auch die Beratung in Schulfragen und die Sozialversorgung. Die Behandlung der betroffenen Jungen erfolgt interdisziplinär mit Kinderneurologen, Orthopäden, Kardiologen und Pulmologen sowie Therapeuten, insbesondere Physiotherapeuten, aber auch Ergotherapeuten und Logopäden.

Hoffnung auf kausale Therapie

Die Fortschritte der Forschung der letzten Jahre lassen Patienten und ihre Familien auf eine baldige kausale Therapie hoffen.

Der erste Durchbruch gelang 2014 mit der Markteinführung von Ataluren (Translarna®). Es handelt sich um eine mutationsspezifische, Dystrophinwiederherstellende Substanz, die das Fortschreiten der Muskelschwäche verlangsamt. Eine Wirksamkeit besteht allerdings nur bei Patienten mit einer bestimmten Form der Mutation am Dystrophin-Gen, einer sogenannten Nonsense-Mutation, die nur bei ca. 13 % aller Duchenne-Patienten vorliegt [6].

Medikamente mit einem weiteren Wirkungsansatz (Exon-skipping) wurden in den USA zugelassen. Auch diese sind nur für eine jeweils kleine Untergruppe der Patienten wirksam.

Große Hoffnung ruht auch bei der Muskeldystrophie Duchenne auf der Entwicklung einer Gentherapie. Entsprechende Studien haben bereits begonnen und werden voraussichtlich in den nächsten Monaten auch in einzelnen deutschen Universitätskliniken anlaufen.

Fazit

Die Muskeldystrophie Duchenne ist bei Jungen die häufigste Muskelerkrankung im Kindesalter. Krankheitsverlauf und Lebensqualität werden durch eine möglichst frühe Diagnose und Therapie günstig beeinflusst [1, 5]. Erste kausale Therapien sind zugelassen bzw. befinden sich in der Entwicklung. Jungen vor oder im Kindergartenalter mit motorischen Schwierigkeiten und möglicherweise bereits auffallend kräftigen oder vom Tastbefund her besonders festen Waden sollten frühzeitig einem Kinderneurologen vorgestellt werden.