Oktober 2021 – Ausgabe 38

Möglichkeiten zur Reduktion der Zugangsmorbidität in der Wirbelsäulenchirurgie

Dr. med. Hassan Allouch
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Dr. med. Kais Abu Nahleh
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Keywords: Minimalinvasive Wirbelsäulenchirurgie, Bandscheibenvorfall, Spinalkanalstenose

Die operative Versorgung von Wirbelsäulenpathologien bedingt durch die Lage der Wirbelsäule als zentrales Stützorgan tief im Körperinneren ein nicht unerhebliches Gewebetrauma bei der konventionellen Freilegung. Dieser Umstand war Ausgangspunkt für Bestrebungen zur Reduktion der operativen Zugangsmorbidität, die in ein aktuell weitreichendes Angebot an mehr oder minder minimalinvasiven Versorgungstechniken mündete. Im Folgenden sollen die Möglichkeiten moderner Verfahren in der Wirbelsäulenchirurgie bezüglich der Verringerung des „Flurschadens“ auf dem Weg zum Ort der Pathologie dargestellt werden.

Prinzipiell müssen sich minimalinvasive Techniken am bestehenden Goldstandard messen lassen – so gilt es, dass sich die Operationsziele mit der gleichen Sicherheit für die Patienten realisieren lassen wie beim konventionellen, offenen Vorgehen. Unter dieser Prämisse wird ein minimalinvasives Vorgehen als für den Patienten vorteilhaft angesehen. Neben der Reduktion des Blutverlustes lässt sich ein kürzerer Krankenhaus-aufenthalt belegen, eine Verringerung der Operationszeit wird inkonsistent beschrieben [1, 2, 3]. Demgegenüber stehen eindeutige Nachweise der Überlegenheit minimalinvasiver Techniken bezüglich Reoperationsrate und Verbesserung von Schmerz sowie gesundheitsbezogener Lebensqualität aus [1, 2, 3].

Die Anwendung minimalinvasiver Techniken geht im Vergleich mit dem offenen Vorgehen in der Regel mit einer höheren Strahlenexposition einher [3, 4]. Minimalinvasive Verfahren weisen ferner gegenüber konventionellen Techniken meist eine längere Lernkurve auf [5]. Im Folgenden sollen einige minimalinvasive Techniken im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie exemplarisch dargestellt werden.

Perkutane transartikuläre Stabilisierung C1/2

Die Densfraktur stellt die häufigste knöcherne Verletzung der HWS beim älteren Menschen dar. Ein Therapie- standard in dieser Altersgruppe wird weiterhin kontrovers diskutiert. Bei instabilen Frakturen (Typ II n. Anderson und D’Alonzo) mit oft koexistenter atlantoaxialer Arthrose wird in der Regel die dorsale Stabilisierung C1/2 (transartikulär nach Magerl oder in Goel-Harms-Technik) mit Fusion angestrebt [6]. Zur Verringerung der Eingriffsmorbidität der oft hoch betagten und meist multimorbiden Patienten wurde die perkutane transartikuläre Stabilisierung C1/2 entwickelt. Hierbei erfolgt in Bauchlage unter Nutzung von zwei Bildverstärkern das Einbringen der transartikulären Schrauben (3,5 mm) C1/2 über zwei kleine Stichinzisionen paramedian im Bereich der unteren HWS (Abb. 1) [7].

Alhashash et al. konnten für die Versorgung von 20 Patienten über 65 Jahren (65-98 Jahre) mit Dens-Frakturen Typ II nach Anderson und D’Alonzo und einem ASA-Score III oder IV durch die perkutane transartikuläre Stabilisierung eine Frakturheilung in 88 % erreichen [7]. Die mittlere OP-Zeit betrug 52 Minuten (35 – 85 Minuten), der mittlere Blutverlust lag bei 42 ml [7].

Nachteilig bei dem Verfahren ist die fehlende Möglichkeit einer dorsalen Spondylodese C1/2. Für Patienten, die eine mehrmonatige externe Ruhigstellung mittels Halsorthese nicht tolerieren, stellt das Verfahren eine sichere Alternative dar, die in einem hohen Anteil zur Frakturheilung führt.

Transkorporale zervikale Dekompression

Bei der operativen Versorgung von Bandscheibenvorfällen im Bereich der Halswirbelsäule stellt die ventrale Diskektomie mit nachfolgender Implantation eines Cages oder in ausgewählten Fällen einer Bandscheibenprothese aktuell den Goldstandard dar. Als nachteilig werden hierbei neben Implantat-assoziierten Komplikationen im engeren Sinne die Anschlusssegment-Problematik sowie Schluckbeschwerden angesehen. Ein Bandscheibenerhaltendes Verfahren für relativ weiche, lateral liegende Vorfälle stellt die dorsale Sequestrektomie nach Frykholm dar. Problematisch kann hierbei eine symptomatische Instabilität nach teils notwendiger knöcherner Resektion im Gelenkbereich sein.

Um den „Flurschaden“ im Sinne der Entfernung der gesamten Bandscheibe, um eine nur wenige Millimeter messende Pathologie im Spinalkanal adressieren zu können, zu minimieren, wurde die transkorporale zervikale Dekompression entwickelt [8]. Kernpunkt des Verfahrens ist die Nutzung eines Arbeitskanales durch den Knochen des Halswirbelkörpers, um den Spinalkanal zu erreichen. Hierbei erfolgt bei dem in Vollnarkose in Rückenlage auf einem röntgendurchlässigen Tisch gelagerten Patienten über eine ca. 1,5 cm Hautinzision ipsilateral der Zugang zur ventralen HWS unter Schonung von Gefäß-Nerven-Bündel und Schlund bzw. Trachea und Ösophagus. Anschließend wird mittels 7 mm Hohlbohrer unter Bildverstärker ein Arbeitskanal durch den Wirbelkörper geschaffen. Unter Nutzung des Operationsmikroskops kann nun der Bandscheibenvorfall entfernt und die Nervenwurzel dekomprimiert werden. Anschließend wird der leicht gekürzte, mit Fibrin-Kleber bestückte Bohrzylinder wieder in den Arbeitskanal eingebracht (Abb. 2). Dieses bewegungserhaltende Verfahren ohne Notwendigkeit der Nutzung von Implantaten oder Beeinträchtigung der Segmentstabilität eignet sich für laterale, nicht-ossifizierte Bandscheibenvorfälle der HWS. Auch im Rahmen der Behandlung von Anschlusssegment-Pathologien nach vorausgegangenen Fusionen hat sich das Verfahren als effektiv erwiesen (Abb. 3). Kontraindikationen stellen die fortgeschrittene Segmentdegeneration, Instabilitäten, Myelopathie und Fraktur dar.

Thorakoskopisch-assistierte Versorgung von Pathologien der vorderen Säule der Brustwirbelsäule und des thorakolumbalen Übergangs

Der klassische Zugang zu den vorderen Abschnitten der Brustwirbelsäule zum Zwecke der ventralen Spinalkanaldekompression, Korrektur von anterior fixierten Fehlstellungen oder Rekonstruktion ventraler Defekte erfolgt mittels Thorakotomie. Dies erfordert regelhaft die Mobilisierung und teilweise Durchtrennung der Thoraxwandmuskulatur sowie die (temporäre) Entfernung einer Rippe. Durch Adaptation endoskopischer Techniken aus der Thoraxchirurgie wurden thorakoskopische Versorgungsmöglichkeiten im Bereich der Wirbelsäule etabliert. Angelehnt an die gängige Praxis der Fachkollegen erfolgt dies in der Regel in Seitenlagerung des Patienten. Im Verlauf der Weiterentwicklung der Techniken eröffnete sich die Möglichkeit der thorkoskopischen Versorgung von Wirbelsäulenpathologien in Bauchlage – der dem Wirbelsäulenchirurgen geläufigen Positionierung des Patienten. Dies ermöglichte neben der „gewohnten“ Orientierung das simultane Arbeiten ventral und dorsal ohne Umlagerung des Patienten. So können komplexe Fehlstellungen „titriert“ anterior und posterior korrigiert werden, die Einleitung von externen Korrekturkräften gelingt in Bauchlage besser als in Seitenlage. Im Idealfall erfolgt die dorsale Versorgung ebenso minimalinvasiv mittels perkutaner Techniken. Mit dem thorakoskopisch- assistierten Verfahren in Bauchlage lassen sich alle ventralen Pathologien von Th2 bis zur Bandscheibe L1/2 adressieren; neben Dekompressionen und intersomatischen Fusionen sind Debridements, Korporektomien mit Einbringen
von Wirbelkörperersatz-Implantaten sowie anteriore Releases möglich. In Abb. 4 ist die minimalinvasive Versorgung einer instabilen Fraktur dargestellt. Das Verfahren hat sich auch im Langzeitverlauf als sicher und effektiv erwiesen [9].

Mikroskopisch-assistierte perkutane Nukleotomie/Dekompression

In den 70er Jahren begann Hijikata in Japan über ein tubuläres System, unter Nutzung der damals bei Discographien üblichen posterolateralen Route zur Bandscheibe, perkutane Nukleotomien durchzuführen. Kambin popularisierte das Verfahren in den 80er-Jahren. Zu Beginn des neuen Jahrtausends erfolgten zunehmende Bemühungen, die Zugangsmorbidität des damaligen Standards der mikrochirurgischen VerSorgung über tubuläre, transmuskuläre Zugänge zu minimieren. Böhm et al. Publizierten die mikroskopisch-assistierte perkutante Nukleotomie/Dekompression-Technik, bei der über ein 11 mm oder 14 mm Portal unter Visualisierung mittels OP-Mikroskop ein großes Indikationsspektrum dorsaler Versorgungen der gesamten Wirbelsäule (Spinalkanaldekompression uni- und bilateral; Nukleotomie interlaminär, transossär translaminär, foraminal, extra-foraminal; Entlastung epiduraler Hämatome/Abszesse;Gelenkfusion;Biopsie/Kürettage von z. B. Osteoidosteomen etc.) geleistdes OP-Mikroskops wird die Visualisierung in 3D sowie die Möglichkeit, mehrere Instrumente simultan im Arbeitskanal zu verwenden, als vorteilhaft angesehen. In jüngerer Vergangenheit werden zunehmend vollendoskopische Techniken zur Nukleotomie/Dekompression transforaminal oder interlaminär an HWS, BWS und LWS popularisiert. Die Lernkurve für die vollendoskopischen Verfahren stellt eine besondere Herausforderung dar.

Minimalinvasive lumbale Spondylodese (MIS­TLIF, LLIF)

Bei der offenen lumbalen Spondylodese (TLIF – transforaminale lumbale intersomatische Fusion oder PLIF – posterolumbale intersomatische Fusion) wird die paravertebrale Muskulatur von den dorsalen Strukturen der Wirbelsäule abgelöst, um neben dem Einbringen von Pedikelschrauben die Dekompression des Spinalkanals sowie die Ausräumung der Bandscheibe und nachfolgend die Implantation eines intersomatischen Cages zu ermöglichen. Im Zuge der Entwicklung der perkutanen dorsalen Stabilisierung z. B. im Rahmen von Frakturversorgungen, die mittlerweile an breiter Front etabliert ist, erfolgten zunehmende Bemühungen, auch die lumbale Spondylodese minimalinvasiv zu realisieren, um das Weichteiltrauma zu reduzieren.
Es bedurfte der Entwicklung von Retraktorsystemen, die den sicheren Zugang zum Bandscheibenfach mit der Möglichkeit der Entfernung der Bandscheibe und die Implantation eines Cages unter Schonung von Dura und Nervenwurzel ermöglichen. Die dorsale Stabilisierung des entsprechenden Segmentes erfolgt meist fluoroskopisch kontrolliert über mit Schraubenkopfverlängerungen (Hülsen) versehene Pedikelschrauben, die das getunnelte, subfasziale Einbringen der Stäbe erlauben (Abb. 5). Im Vergleich mit dem konventionellen Vorgehen ist die Rehabilitationsphase für Patienten nach minimalinvasiver TLIF kürzer; im Langzeitverlauf unterscheiden sich beide Verfahren nicht [13]. Ein durch Pimenta im Jahre 2001 inauguriertes Verfahren stellt die laterale lumbale intersomatische Fusion (LLIF) dar, bei der ebenso unter Nutzung eines Retraktorsystems das entsprechende Bandscheibenfach über einen „Trans-Psoas“-Zugang von lateral dargestellt wird [14]. In diesem Zusammenhang erfordert die Schonung des Plexus lumbalis ein Neuromonitoring.

Fazit

Zusammenfassend bieten minimalinvasive Techniken die Möglichkeit, das Trauma des operativen Zugangs zur Wirbelsäule zu minimieren. Die Verfahren sollten sich am etablierten Standard messen und hinsichtlich Effektivität und Sicherheit zumindest ebenbürtig sein. Sinnvoll eingesetzt, erweitern sie die Versorgungsmöglichkeiten im Bereich der Wirbelsäule auch für Risikopopulationen.