Oktober 2020 – Ausgabe 36
Lumbale Spondylodese – wann lohnt sich diese Operation?
PD Dr. med. Michael Muschik
Zum Arztprofil
Keywords: Lumbalgie, Spondylodese, Postnukleotomiesyndrom, lumbales Schmerzsyndrom
Nur ein sehr geringer Anteil der Patienten mit Lumbalgien benötigt eine chirurgische Intervention. Die Indikationen zur lumbalen Spondylodese sind Instabilitäten und Schmerzsyndrome verschiedenster Ursachen; die Ziele des Eingriffs sind eine deutliche Besserung der Schmerzen und eine Verlängerung der Gehstrecke. Vollständige Beschwerdefreiheit nach der Spondylodese ist hingegen unrealistisch und sollte dem Patienten nicht in Aussicht gestellt werden. Bei zurückhaltender Indikationsstellung und geringstmöglicher Ausdehnung des Eingriffs sowie sorgfältiger Aufklärung und Nachbehandlung sind jedoch die meisten Patienten mit dem Ergebnis zufrieden.
Lumbalgien sind weltweit ein großes Problem. Man schätzt, dass fast jeder zehnte Mensch weltweit darunter leidet – eine Tatsache, die nicht nur Patienten und Ärzte, sondern auch die Wirtschaft beschäftigt (1). Denn Kreuzschmerzen sind auch ein großer ökonomischer Faktor und gelten als eine der Hauptursachen für versäumte Arbeitstage (2, 3). So stellt die DAK in ihrem Gesundheitsreport 2018 fest, dass jeder zwanzigste Arbeitnehmer in Deutschland mindestens einmal im Jahr wegen Rückenbeschwerden krank geschrieben ist und dabei – hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung – rund 35 Millionen Ausfalltage entstehen. Nur akute Atemwegsinfekte verursachen noch mehr Ausfallzeiten (4).
Offensichtlich sind Kreuzschmerzen ein sehr komplexes Problem, da sie viele verschiedene Ursachen haben können. Nicht zuletzt psychische und soziale Probleme sind ein häufiger Grund für derartige Episoden. Befunde hingegen, die einer Bildgebung oder chirurgischer Intervention bedürfen, machen nur einen geringen Anteil aller Fälle aus. Und selbst wenn man beispielsweise im MRT einen ersten unkomplizierten Bandscheibenvorfall sieht, ist nicht gesichert, ob dieser auch für den aktuellen Schmerz verantwortlich ist.
Insgesamt gilt: Für ca. 85 % aller Rückenschmerzen wird keine eindeutige Ursache gefunden, man spricht von unspezifischen Kreuzschmerzen. Sie werden zunächst konservativ, also mit Physiotherapie, Kräftigungsübungen, Psychoedukation etc. behandelt.
Erst wenn Kreuzschmerzen länger als vier bis sechs Wochen anhalten oder weitere Symptome hinzutreten, sollte eine genaue Abklärung erfolgen (5). Bei einigen Patienten kann dann eine Operation angeraten oder sogar erforderlich sein.
Eine dieser, in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend durchgeführten Operationen an der Lendenwirbelsäule ist die sogenannte Wirbelsäulenversteifung (Spondylodese). Um zu erläutern, aus welchen Gründen und wie diese Operationsmethode entwickelt wurde, eine kurze medizinhistorische Übersicht:
Historie der Operationen an der Wirbelsäule
Die ersten Operationen an der Wirbelsäule wurden um das Jahr 1820 ausgeführt und dienten der Entfernung (Dekompression) knöcherner Fragmente, die nach Verletzungen Rückenmark und Nervenstrukturen einengten. Ende des 19. Jahrhunderts konnten bereits raumbeengende Tumoren an der Wirbelsäule entfernt werden.
Die operative Stabilisierung der Wirbelsäule hat eine mehr als 100jährige Ge- schichte. Im Jahr 1902 hatte der Münchener Orthopäde Prof. Fritz Lange den genialen Gedanken, eine erkrankte Wirbelsäule operativ zu stabilisieren. Bis dahin waren dazu äußerlich stützende Korsette verwendet worden. Er wollte die Schienen des Korsetts, die eine erkrankte Wirbelsäule von außen ruhigstellen und stützen, in das Innere des Körpers hinein verlegen. Er setzte diesen Gedanken in die Tat um und führte 1902 seine erste operative Stabilisierung der Wirbelsäule aus, bei der er körperfremdes Material verwendete. Dies waren zunächst Eisenstäbe, dann Zelluloidstäbe und schließlich Stäbe aus rostfreiem Kruppstahl. Die Stäbe wurden seitlich neben den Dornfortsätzen an der Wirbelsäule eingefügt und mit dicken Seidenfäden oder Drahtschlingen befestigt (6).
In seinem Lehrbuch aus dem Jahre 1951 berichtete der Neffe von Fritz Lange, der Münchener Orthopäde Prof. Max Lange, dass sich an der Wirbelsäule die alleinige Verwendung von körperfremdem Material auf die Dauer nicht bewährt hatte. Auch nach anfänglicher glatter Einheilung war, wie vieljährige Beobachtungen der Fälle zeigten, „die Gefahr der Spätausstoßung der Fremdkörper groß. Die Fremdkörper zeigten sich der ihnen gestellten Aufgabe auf die Dauer nicht gewachsen (7).
Es war das Verdienst der Orthopäden Henle (1911) und Albee (1911) sowie Bradford, die für die Schienung der erkrankten Wirbelsäule auf körpereigenes Material, auf Knochenspäne, zurückgegriffen haben und so eine operative Verknöcherung und knöcherne Stabilisierung der Wirbelsäule erzielten. Dabei wurden die kleinen Wirbelgelenke und die oberflächlichen knöchernen Strukturen an der Wirbelsäule eröffnet (Arthrodese der Wirbelgelenke, Dekortizieren des Knochens) (8, 9). Bis heute ist die Verwendung von körpereigenem Knochen aus dem Beckenkamm der „GoldStandard“ zur Erzielung von knöchernen Versteifungen an der Wirbelsäule (10).
Diese grundlegenden Techniken der Wirbelsäulenchirurgie wurden in den letzten Jahrzehnten miteinander kombiniert und wesentlich verbessert. Zusammengefasst können Operationen an der Wirbelsäule bis heute in drei große Säulen unterteilt werden:
- die operative Dekompression (Entlastung des Rückenmarks und der Nerven von einengenden Knochen, Bändern oder Bandscheibenvorfällen)
- die Fusion oder Spondylodese (knöcherne Versteifung mit Eigenknochen oder knöchernen Ersatzmaterialien)
- die formkorrigierenden und stabilisierenden Operationen unter Verwendung von metallischen Implantaten (aktuell überwiegend StabSchraubenSysteme aus Titan).
Was sind heute Indikationen für die Spondylodese?
Eine absolut eindeutige Antwort gibt es nicht. Wesentlich ist wie stets die ärztliche Bewertung aller Befunde des erkrankten oder verletzten Menschen und dessen eigene Erwartungen an die Heilung und Verbesserung seiner Situation. Dies vorausgesetzt, können Versteifungsoperationen indiziert sein bei:
- schweren Verletzungen und Verletzungsfolgen an der Wirbelsäule, insbesondere wenn diese mit neurologischen Schädigungen einhergehen
- bakteriellen Entzündungen, Metastasen und Tumoren,
- schweren degenerativen oder rheumatischen Instabilitäten und Schmerzsyndromen, wie z. B. Wirbelgleiten, Skoliosen, Postnukleotomiesyndrome
Operationsverfahren
Der häufigste Weg führt über einen Schnitt am Rücken (dorsaler Zugang). Es werden Titanschrauben und Titanstäbe in die Wirbelkörper positioniert, mit denen eine dauerhafte Korrektur und Stabilisierung erreicht wird. Oft ist dann eine Dekompression zur Entlastung eingeengter Nerven erforderlich. Dieser Schritt wird mit der Anlagerung von Knochen ergänzt, sodass eine dauerhafte knöcherne Spondylodese der Wirbel entsteht. Zudem kann eine zusätzliche Stabilisierung der Wirbelsegmente durch die knöcherne Fusion der Bandscheiben erreicht werden. Manchmal ist dazu ein weiterer operativer Zugang zur Lendenwirbelsäule durch einen seitlichen oder ventralen Brust oder Bauchschnitt erforderlich.
Nachbehandlung
Durch die implantierten Schrauben und Stäbe ist die Wirbelsäule in aller Regel sofort stabil und man kann schon am Operationstag aufstehen. Bis zur knöchernen Ausheilung, die etwa 8–12 Wochen Zeit benötigt, sollte eine Zeit der Schonung eingehalten werden, und mobilisierende Übungen an der Wirbelsäule sollten unterbleiben. Zunehmend längere Spaziergänge sind oft schon möglich. Wir haben gute Erfahrungen mit einer unmittelbar postoperativen stationären Rehabilitationsbehandlung. Vielen Patienten hilft die Therapie sehr und es werden größere Belastungen im eigenen Haushalt vermieden.
Welche Ergebnisse kann man realistisch erwarten?
Nach Ausheilung der Spondylodese sind die allermeisten Patienten mit der Operation zufrieden, die Schmerzen deutlich gebessert; im Mittel wird eine Besserung von 70 bis 80 % angegeben. Insbesondere wird berichtet, dass der Nachtschmerz abgenommen hat, Durchschlafen wieder möglich ist und auch die Beinschmerzen gelindert sind. Die Gehstrecke wird deutlich besser.
Eine vollständige Beschwerdefreiheit, „so, als wenn nie etwas gewesen wäre“, ist hingegen nicht realistisch. Der Rücken bleibt auch nach einer gut verheilten Spondylodese eine Schwachstelle, die mit Sorgfalt und korrekter Einschätzung der verbliebenen Möglichkeiten weiter behandelt werden muss.
Komplikationen
Es sind kurzfristige, unmittelbar perioperative Komplikationen und langfristigere Schwierigkeiten zu differenzieren. Eine große Sorge bereitet vielen Patienten die Gefahr einer während der Operation auftretenden und irreversiblen Lähmung. Obwohl derartig gravierende Komplikationen nicht absolut ausgeschlossen werden können, sind sie jedoch extrem selten. Eine langfristige Komplikation kann die Abnutzung der nichtversteiften Segmente ober- oder auch unterhalb der Spondylodese sein. Nach einer Versteifung wird die Bewegungskette der Bandscheiben und Wirbel eingeschränkt, weniger Wirbelsegmente und Bandscheiben sind beweglich und müssen die Bewegungen ausführen. Dies führt oft zu einer Überlastung der verbliebenen Bandscheiben. Junge Bandscheiben können sich an diese Mehrbelastung adaptieren, sie werden größer und stabiler. Ältere und vorgeschädigte Bandscheiben vermögen sich nicht mehr anzupassen und verschleißen unter höherer Belastung schneller: es entsteht die sogenannte Anschlussinstabilität.
Generell korreliert die Häufigkeit von Komplikationen in der Wirbelsäulenchirurgie einerseits mit der Schwere der Erkrankung und andererseits mit der Ausdehnung der Versteifung und des chirurgischen Vorgehens.
Während wir in unserer ärztlichen Tätigkeit die Schwere der Erkrankung zunächst akzeptieren müssen, können wir zurück haltend bei der Entscheidung zur Operation und dem Ausmaß des Eingriffs sein, und zusammen mit unseren Patienten oft einen akzeptablen und guten Weg in der Therapie finden.
Es gilt unverändert, dass nicht alles, was möglich ist, notwendig dem Patienten dient: „primum non nocere, secundum ca vere, tertium sanare“. Diesem antiken Wahlspruch zufolge soll der Arzt in seinem Bemühen, dem ihm anvertrauten Patienten zu helfen, zunächst darauf achten, ihm nicht zu schaden. Zweitens soll er achtgeben bzw. vorsichtig sein, damit er genau verstehen kann, was seinem Patienten tatsächlich dient. Erst dann kann er drittens die für die Heilung erforderlichen Schritte unternehmen. Diese Weisheit hat um das Jahr 50 n. Chr. der römische Arzt Scribonius Largus am Hof von Kaiser Tiberius Claudius aufgestellt. Gerade auch in der Wirbelsäulenchirurgie hat sie bis heute ihre Bedeutung behalten.