Mai 2023 – Ausgabe 41

Ist eine Schulterprothese sinnvoll für sehr alte Menschen?

Dr. med. Sven Lichtenberg
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Schnetzke

Prof. Dr. med. Marc Schnetzke
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Prof. Dr. med. Markus Loew
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Schlüsselwörter: Schulterendoprothese, anatomische Prothese, inverse Prothese

Die prothetische Versorgung des Schultergelenks hat in den letzten Jahrzehnten einen enormen Zuwachs an Bedeutung und Fallzahlen erfahren. Während früher künstliche Gelenke aus Vorsicht vor Lockerungen und möglichen Wechseloperationen eher sehr spät im Leben implantiert wurden, besteht heute durch technische Fortentwicklungen die Tendenz, auch Patienten im 5. und 6. Jahrzehnt mit Gelenkprothesen zu versorgen. Die Versorgung mit einer Schulterendoprothese beim sehr alten Patienten ist heute eine regelhafte Indikation in der operativen Orthopädie.

Wenn wir definieren, dass der sehr alte Patient ein Alter von mindestens 80 Jahren hat, gibt es im Bereich der Schulter verschiedene Indikationen zur Prothesenimplantation. Grundvoraussetzung für die nun folgenden Indikationsstellungen sind letztlich ein entsprechender Leidensdruck des Patienten sowie eine internistische und anästhesiologische Operationsfähigkeit, den Eingriff zu überstehen.

Überblick über die Prothesentypen

Prinzipiell unterscheidet man zwischen einer anatomischen und einer inversen Prothese. Während bei einer anatomischen Prothese die Gelenkflächen 1:1 ersetzt werden (Abb. 1), erfolgt bei der inversen Prothese eine Umkehr der Gelenkpartner. Ergo: Der konvexe Gelenkpartner (Glenosphere) ersetzt das Glenoid und der konkave den Humeruskopf (Abb. 2). Hierdurch wird das Rotationszentrum kaudalisiert und medialisiert, wodurch eine bessere Vorspannung des M. deltoideus erfolgt und somit die Rotatorenmanschetten-insuffiziente Schulter wieder funktionstüchtig wird. Dieses von Grammont optimierte Prinzip hat die Entwicklung der Schulterprothetik extrem positiv beeinflusst.

Kurz gesagt implantiert man eine anatomische Prothese im Falle einer intakten Rotatorenmanschette und eine inverse Prothese, wenn die Rotatorenmanschette insuffizient ist.

Spezielle Indikationen bei sehr alten Patienten: Anatomische Prothese

Omarthrose

Die Omarthrose ist gekennzeichnet durch einen Verschleiß der Gelenkflächen von Glenoid und Humeruskopf. Der Humeruskopf wird durch eine ventrale Kontraktur der Weichteile allmählich nach dorsal verschoben. Daraufhin entwickelt sich ein posteriorer Pfannenverbrauch und es entsteht eine bikonkave Pfanne, was die dorsale Translation noch verstärkt. Die Rotatorenmanschette (RM) ist intakt, zeigt ab und an beginnende Atrophien der RM-Muskeln durch Inaktivität. In der Rehabilitation muss der inzidierte und rekonstruierte Subscapularis vorsichtig nachbehandelt werden, was eine gute Compliance des Patienten voraussetzt. Die Indikation zur anatomischen Prothese beim Patienten über 80 kann also gestellt werden, wenn der Patient keine RM-Schäden aufweist und die Compliance gut ist.

Besteht jedoch eine erhebliche Verformung des Glenoids im Sinne einer Deformität Typ B2 oder B3 nach Walch [3] (Abb. 3) und/oder eine deutliche muskuläre Atrophie der RM, sollte auf eine inverse Prothese zurückgegriffen werden.

Posttraumatische Arthrose/Nekrose

Nach einer proximalen Humeruskopffraktur, ungeachtet einer konservativen oder operativen Erstversorgung, kann es als Folge bei Typ I oder Typ II nach Boileau zu arthrotischen Veränderungen des Gelenks oder zu einer Humeruskopfnekrose kommen. Solange die Tuberkula anatomisch stehen und eingeheilt sind und somit die RM als intakt angesehen werden kann, ist die Implantation einer anatomischen Prothese gerechtfertigt und sichert eine Verbesserung der Lebensqualität durch Schmerzbefreiung und Zunahme der Bewegungsumfänge.

Inverse Prothese

Defektarthropathie

Die Defektarthropathie beschreibt den Zustand einer Schulter mit lange bestehender RM-Ruptur, superiorer Migration des Humeruskopfes und Arthrose der Gelenkpartner. Der Knorpelverbrauch besteht zu Beginn vor allem am kranialen Humeruskopf und Glenoid und kann auf das gesamte Gelenk übergehen. Es kommt im fortgeschrittenen Stadium auch zu Arrosionen des Akromions (Acetabulisierung) (Abb. 4a), in ganz fortgeschrittenen Fällen auch des lateralen Klavikulaendes. Durch den chronischen RM-Schaden erfolgt im Laufe der Zeit eine Abnahme der Funktionalität des Gelenks bis hin zu einer massiven aktiven Bewegungseinschränkung.

Dies ist die klassische Indikation zur inversen Prothese, da sie wie oben beschrieben die RM-insuffiziente Schulter wieder funktionstüchtig macht (Abb. 4b).

Irreparabler RM-Schaden ohne Arthrose

Im hohen Alter treten bei Menschen de- generative RM-Schäden auf, die zunächst gut klinisch kompensiert werden. Kommt es jedoch im weiteren Verlauf zu einer deutlichen Funktionseinbuße und anhaltenden Schmerzen, wenden sich die Patienten mit der Hoffnung auf Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung an den Orthopäden. Radiologisch besteht noch keine Defektarthropathie mit Humeruskopfhochstand oder arthrotischen Veränderungen, eine RM-Rekonstruktion ist jedoch ebenso nicht mehr möglich. Die sonstigen Alternativen zur Behandlung der irreparablen RM-Ruptur wie superiore Kapselrekonstruktion, Sehnentransfers oder Partialrekonstruktionen haben eine sehr lange und schwierige Rehabilitation, die gerade für den sehr alten Patienten schwierig ist zu folgen. Zur Wiederherstellung einer alltagstauglichen Schulterfunktion und zur Schmerzbefreiung kann dann ebenfalls eine inverse Prothese empfohlen und implantiert werden (Abb. 2) [6]. Man sollte beachten, dass die Zufriedenheit der Patienten davon abhängt, wie viel Funktionsgewinn und Schmerzreduktion sie im Vergleich zur präoperativen Situation erfahren [4].

Akute Humeruskopffraktur

Im hohen Alter häufen sich die proximalen Humeruskopffrakturen. Liegt eine geringgradig oder nicht dislozierte Fraktur vor, so kommt selbstverständlich eine konservative Therapie zur Anwendung.

Im Falle einer stark dislozierten Mehrfragmentfraktur (Abb. 5) führt eine Osteosynthese aufgrund der bestehenden Osteopenie bzw. Osteoporose nur in wenigen Fällen zu einem stabilen Ausheilungsergebnis. Besteht also die Indikation zur prothetischen Versorgung wegen Irreparabilität, des schlechten Knochenzustandes und eines hohen Nekroserisikos des Humeruskopfs, hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die inverse Prothese die zuverlässigeren Ergebnisse erbringt.

Vergleicht man die Ergebnisse der Hemiprothetik nach Fraktur mit der inversen Prothetik, so zeigt sich, dass bei Einheilung der reparierten Tuberkula die funktionalen Ergebnisse vergleichbar gut sind, bei Nichteinheilung der Tuberkula jedoch die inverse Prothese deutlich besser abschneidet. Nichtsdestotrotz wird empfohlen, die Tuberkula möglichst optimal zu reponieren und refixieren (Abb. 6). Aus diesem Grund wird heute bei der Indikation zum prothetischen Ersatz beim sehr alten Patienten ein inverses Implantat präferiert, da auch bei Nichteinheilung der Tuberkula eine gute Alltagstauglichkeit zu erwarten ist [1,2].

Ergebnisse

Die verschiedenen bereits zitierten Studien zeigen eine hohe Zufriedenheit bei über 80-jährigen Patienten nach inverser Prothese. Kriechling et al. [5] konnten ebenfalls für die verschiedenen Indikationen (s. o.) eine wertvolle Verbesserung der Schulterfunktion und des Schmerzes beweisen.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass es auch bei sehr alten Patienten ganz klare Indikationen zum endoprothetischen Ersatz des Schultergelenks gibt. Durch die Schulterprothetik kann dem sehr alten Patienten eine gute Funktionalität des geschädigten Gelenks und eine Verbesserung der Lebensqualität zurückgegeben werden.