Mai 2022 – Ausgabe 39
Individualisierung in der Knieendoprothetik durch individuelle Implantate und Robotik
Prof. Dr. med. Christoph Becher
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Schlüsselwörter: Knieendoprothetik, Individualisierung, Robotik
Die „Individualisierung der Medizin“ ist mittlerweile auch in der Knieendoprothetik angekommen. Computerassistenzsysteme mit eventuell zusätzlicher Robotik zur Verbesserung des Alignments und der Bandspannung sind immer häufiger in den Operationssälen anzutreffen. Zudem versprechen Implantat-Innovationen, die Kinematik und das „Kniegefühl“ zu verbessern. Im Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen über die variablen Phänotypen des Knies und der Berücksichtigung dieser Individualität ist die Nutzung der technologischen Möglichkeiten mehr oder weniger alternativlos, um die Ergebnisse für unsere Patienten verbessern zu können.
Die Individualisierung ist in vielen Bereichen unseres Lebens ein großes Thema. In der Werbung werden oft auf die eigene Person bezogene Personal- beziehungsweise Possessivpronomen wie „mein …“ und „ich …“ gebraucht. Ob das als „perfekt auf mich zugeschnittene“ beworbene Accessoire nun entscheidend für das Lebensglück ist, kann man natürlich kontrovers diskutieren. Das Thema Gesundheit mit den orthopädischen Hauptzielen der Schmerzfreiheit und der guten Funktion des Bewegungsapparates hat hier wahrscheinlich schon eine größere Bedeutung. Das Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Standardisierung ist auch im Bereich der Kniegelenksendoprothetik zu verzeichnen. Dass diese zum Teil eher negativ mit dem Stempel „unnötige Operation“ mit „unzufriedenen Patienten“ versehen war, motivierte zur Verbesserung der Ergebnisse in den letzten Jahren und erzeugte ein grundsätzliches Umdenken in Bezug auf die Philosophie des Vorgehens, auf die operative Technik und Methodik.
Die Anatomie jedes einzelnen Menschen stellt sich als hochgradig variabel dar [1]. Die Phänotypen der aus Femur und Schienbein Tibia generierten Beinachse und der Phänotyp des Knies an sich haben sich bei Untersuchungen von gesunden, aber ebenso von degenerativ veränderten Knien als sehr individuell herausgestellt. Diese anatomische Variabilität führt auch zu einer starken funktionellen Variabilität, welche natürlich im Rahmen der bildgebenden und klinischen Untersuchung wesentlich schwieriger zu erfassen ist. Die Größen und Formvarianten der konventionellen StandardKnieendoprothesen können bisher kaum die Variabilität des menschlichen Kniegelenkes abdecken. Eine Überdimensionierung der Implantate erhöht das Risiko von residualem Schmerz und Steifigkeit und kann die funktionellen Ergebnisse negativ beeinflussen [2, 3].
Da das periartikuläre Weichteilgewebe des Kniegelenks nicht elastisch ist, erzeugt die Implantation einer „mechanisch“ ausgerichteten Prothese zum Erreichen einer geraden Beinachse ein Ungleichgewicht (Imbalance) der Bandspannung, einen veränderten Lauf der Patella, und daraus resultierend kann die standardisierte Prothese zu Steifigkeit führen. Diese Nachteile werden adressiert durch technischoperative Tricks wie Bandrelease.
Individualisierte Achsausrichtung (Alignment) in der Knietotalendoprothetik
Der „goldene Standard“ in der Knieendoprothetik ist die sogenannte mechanische Achsausrichtung (mechanisches Alignment), welche auf eine gerade Beinachse von 180° abzielt (neutrales Alignment), erreicht durch orthogonale Knochenschnitte in Beugung und Streckung. Ein perfekt gerades Bein von 180° spiegelt allerdings häufig nicht die phänotypische natürliche Beinachse und Bandspannung wider. Die native Schrägheit der Gelenkfläche kann mit klassischen, orthogonalen Knochenschnitten fast nie wiederhergestellt werden. Daraus resultieren asymmetrische Knochenresektionen und eine Instabilität.
Das sogenannte anatomische Alignment zielt zwar immer noch auf eine gerade Beinachse (180°) ab, versucht aber durch leicht schräge Knochenschnitte (3°), die durchschnittliche Schrägheit (mit großen interindividuellen Variationen) der Gelenklinie wiederherzustellen.
Die Idee der individuellen Komponentenausrichtung wird am konsequentesten im Konzept des kinematischen Alignments umgesetzt. Dies adaptiert die Position der Implantate in der Frontalebene an die Weichteile und erhöht dadurch das native originäre Alignment der unteren Extremität. Dabei werden die Prothesenkomponenten individuell positioniert.
So kann die spezifische Oberflächenanatomie des Kniegelenkes mit besonderer Berücksichtigung der distalen und posterioren Femurkondylenachsen wiederher gestellt werden. Hingegen wird die tibiale Ausrichtung in Bezug auf die Weichteilbalance des Femurs angepasst.
Implantation einer Knieendoprothese mit Roboterunterstützung und individuellen Implantaten
Die Umsetzung des originären individuellen Alignments kann durch technische Hilfsmittel und individuelle Implantate vereinfacht und optimiert werden. Robotersysteme bieten in Kombination mit der Navigation und Verwendung von Standardprothesen unter intraoperativem Einbezug der Weichteilspannung die Möglichkeit einer virtuellen Planung (Abb. 1). Die notwendige Knochenbearbeitung wird dabei ebenfalls optimiert und der Knochenverlust so gering wie möglich gehalten. Im Vergleich zu den früheren vollautomatischen Robotern (z. B. Robodoc) haben die neuen Systeme sogenannte stereotaktische Eigenschaften mit taktiler Rückmeldung. Dies bedeutet, dass die Operation nicht vollautomatisch von einem Roboter durchgeführt wird, sondern der Operateur den Roboter, welcher den Knochen mit einer Fräse oder Säge bearbeitet, per Hand führt und vorgegebene Begrenzungen des Knochens nicht überschreiten kann.
Die in der ATOS Klinik Heidelberg verwendete roboterassistierte Technologie Mako Smart RoboticsTM (Fa. Stryker, Kalamazoo, MI, USA) verwendet neben dem Roboterarm und der Navigation eine zusätzliche präoperative Bildgebung (Computertomographie), um die intraoperativ gewonnenen Daten abzugleichen. Zunächst erfolgt eine Schnittbildgebung, um eine detaillierte Visualisierung der Patientenanatomie in dreidimensionaler Form zu erhalten und die Prothesenplatzierung zu planen. Die Daten des Kniegelenks werden während der Operation dann mit diesen Planungsdaten abgeglichen und die Prothese zunächst virtuell implantiert. Die Genauigkeit der Operation ist in Bezug auf die Größenauswahl, Komponentenplatzierung, Achsausrichtung und Rotationseinstellung durch die Roboterassistenz im Vergleich zur konventionellen Technik deutlich verbessert [4]. Klinische Studien lassen gute Ergebnisse vermuten. Hierbei profitierten vornehmlich die jungen und aktiven Patienten [5, 6]. Das dadurch besser umsetzbare kinematische Alignment zeigt gegenüber dem mechanischen Alignment ebenfalls eine Verbesserung des Ergebnisses [7]. Im australischen Prothesenregister ist die Revisionsrate für eine Schlittenprothese bei Verwendung der roboterassistierten Navigation im kurzen Beobachtungszeitraum am geringsten [8].
Das Konzept des originären individuellen Alignments lässt sich mit der patientenspezifischen Anpassung der Implantate prinzipiell am besten verknüpfen. Die individuelle Origin® Knieendoprothese (Fa. Symbios Orthopédie SA, Yverdon lesBains, Schweiz) wurde zwischen 2012 und 2017 entwickelt und ist seit 2018 CE zertifiziert. Dieses System wurde designt, um die native, präarthrotische Anatomie des Kniegelenks wiederherzustellen. Das Origin® Alignment zielt darauf ab, sowohl die originäre (präarthrotische) Beinachse als auch die Schrägheit der Gelenklinie zu reproduzieren.
Zunächst erfolgt eine Schnittbildgebung (Computertomographie) mit 3DRekonstruktion von Hüfte, Knie und Sprunggelenk, um eine detaillierte Visualisierung der Patientenanatomie in dreidimensionaler Form zu erhalten. Mithilfe einer 3DKniesimulation wird ein Modell der ursprünglichen Knieanatomie erstellt (KNEEPLAN® Technologie). Knöcherner Abrieb und arthrotische Deformität werden beurteilt und während der 3DRekon- struktion korrigiert. Der mechanische mediale distale Femurwinkel (mMDFA) wird durch Rekonstruktion der nativen femoralen Oberfläche wiederhergestellt. Der mechanische mediale proximale Tibiawinkel (mMPTA) wird gemessen und durch eine Kombination von Anpassung des Knochenschnitts (bis zu 3°) und einem asymmetrischen PolyethylenInlay (bis zu 2°) wiederhergestellt.
Das native oder konstitutionelle Alignment wird aus der Morphologie des Kniegelenks aus einer CT, ferner aus klinischen Angaben erstellt, z. B. der Reduzierbarkeit der Fehlstellung, und aus der gewichtsbelasteten Achse aus einer Ganzbeinstandaufnahme. Dieses sogenannte originäre Alignment versucht nicht, die Beinachse auf 180° zu verändern, sondern die native Achse wiederherzustellen (Abb. 2).
Darauf basierend wird ein Implantat her gestellt, welches der ursprünglichen Form des Knies entspricht und dabei auch die ursprüngliche Beinachse und Gelenklinie wiederherstellt (Abb. 3). Dabei soll eine möglichst physiologische Kinematik des Gelenkes gewährleistet werden. Ziel ist ein „natürliches“ Kniegefühl unter geringerer Invasivität des operativen Vorgehens mit größtmöglichem Erhalt der Knochensubstanz. Die exakte Implantation der Prothese wird durch das gleichzeitig spezifisch hergestellte Instrumentarium gewährleistet.
Langzeitergebnisse zur Individualendoprothetik am Knie liegen wie bei der Robotik momentan noch nicht vor. Allerdings zeigen die bisher veröffentlichten Studien vielversprechende Ergebnisse für die individuellen Implantate, mit deutlich geringerer Frühlockerungsrate als bei vorkonfektionierten Prothesen [9].
Nachteilig ist die geringe Möglichkeit, während des operativen Eingriffes evtl. notwendige Anpassungen vorzunehmen. Daraus resultiert, dass bei kritischer Bandsituation oder größeren Fehlstellungen und Bewegungseinschränkungen die individuelle Knieendoprothetik mit Vorsicht anzuwenden ist. Zudem sind im Vergleich zu den Standardprothesen die Kosten für das Implantat deutlich höher und werden von den gesetzlichen Krankenkassen bisher nicht getragen.
Fazit
Die Individualisierung von Implantaten und Alignments, unterstützt durch moderne Technologien und in Verbindung mit verbesserter Kenntnis über die Funktion und Kinematik des Kniegelenkes, ermöglicht die Rekonstruktion des arthrotischen Gelenks mit der originären Beinachse und der Gelenklinie unter Vermeidung von Prothesenüberständen und Kompromissen oder technischoperativen Tricks, welche für eine Standardprothese in mechanischer Ausrichtung häufig notwendig sind. Gute Frühergebnisse sind ermutigend, um in der Zukunft eine höhere Zufriedenheitsrate zu erreichen. Ob auch längere Standzeiten der Prothesen mit allgemein geringeren Revisionsraten erreicht werden können, gilt es allerdings zukünftig noch zu beweisen.