Mai 2022 – Ausgabe 39
Genu valgum bei Kindern – wann muss operiert werden?
Dr. med. Jochen Jung
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Schlüsselwörter: Kinderorthopädie, Genu valgum, temporäre Epiphysiodese, definitive Epiphysiodese, Osteotomie
Weist ein Kind nach dem zehnten Lebensjahr ein Genu valgum auf und klagt über belastungsabhängige Schmerzen, so kann eine Korrektur der Beinachsen sinnvoll sein. Bei Kindern vor Abschluss des Wachstums gelingt diese oft durch eine temporäre Epiphysiodese, einen kleinen, wenig belastenden Eingriff.
Die Beinachsen bei Kindern sind nicht zu allen Zeiten des Wachstums gleich, daher müssen physiologische Veränderungen der Beinachse bei Kindern in Abhängigkeit von ihrem Alter beachtet werden. Bei Neugeborenen und Kleinkindern ist eine varische Beinachse keine Seltenheit und stellt zu diesem Zeitpunkt keine Pathologie dar. Davon abzugrenzen sind die in unseren Breiten recht seltene Rachitis sowie der M. Blount, welcher in der weißen Bevölkerung ebenfalls eine Rarität darstellt.
Ebenso stellt eine mäßig valgische Beinachse bis zum zehnten Lebensjahr eine durchaus physiologische Situation dar. Erst etwa ab dem zehnten Lebensjahr gelten die in der Erwachsenenorthopädie üblichen Beinachsen mit einem typischen Valguswinkel von 6° als normal.
Diagnostik
Zunächst erfolgt eine gründliche Anamnese, die das Kind mit einbeziehen muss. Hierzu kann auch das Aufarbeiten von älteren Kinderbildern hilfreich sein, um einen Verlauf beurteilen zu können. Des Weiteren ist die Frage nach Schmerzen im oder um das Kniegelenk von Bedeutung. Insbesondere belastungsabhängige laterale oder mediale Schmerzen lassen aufhorchen.
Differenzialdiagnostik: Eine Rachitis sollte über eine Laboruntersuchung ausgeschlossen werden. Ein Morbus Blount kann relativ einfach anhand des typischen Röntgenbilds diagnostiziert werden, ebenso posttraumatische Veränderungen nach einer Verletzung der Epiphysenfuge. Nur in seltenen Fällen ist ein MRT zur Beurteilung kleinerer Verletzungen der Fuge mit entsprechendem frühzeitigem Verschluss der Wachstumsfuge notwendig.
Nach der Anamnese erfolgt die gründliche körperliche Untersuchung. Dazu werden zunächst das Gangbild, die Beinachse, aber auch die Rotation analysiert. Bei der Untersuchung im Liegen wird dann die Beinachse kontrolliert und der Abstand zwischen den MalleolenGabeln (Crus/Genu valgum) bei aneinanderliegenden Kniegelenken gemessen, bzw. der Abstand der medialen Femurkondylen bei aneinanderliegenden Malleolen (Crus/Genu varum) bestimmt.
Je nach Ernährungszustand besteht hier aber ein erhebliches Risiko für eine Fehleinschätzung, insbesondere bei adipösen Kindern. Abzugrenzen sind bei der klinischen Untersuchung insbesondere Pathologien im Kniegelenk, wie zum Beispiel eine Fehlanlage des lateralen Meniskus (Scheibenmeniskus) oder verletzungsbedingte Pathologien. Hier kann eine zu schnelle Zuordnung der Beschwerden zur vermeintlich einfachen Fehlstellung den Blick von der eigentlichen Schmerzursache ablenken.
Zur exakten Vermessung der Beinachse und zur Analyse der Parameter wird dann ein Röntgenbild im Stehen vom ganzen Bein angefertigt (Abb. 1), das idealerweise in einem EOS Imaging System mit extrem niedriger Strahlenbelastung erstellt wird. Gerade im Wachstum und bei öfter zu wiederholenden Aufnahmen spielt die Strahlenreduktion eine wesentliche Rolle. Im Anschluss wird dann eine Analyse der Beinachsen sowie der einzelnen Knochen in der Technik nach Pailey durchgeführt. Zusätzlich wird anhand der MiculiczLinie die mechanische Achse des Beins eingezeichnet.
Wird eine entsprechende Pathologie nachgewiesen, sollten noch zusätzlich im Labor die Knochenstoffwechselparameter analysiert werden. Ein Vitamin DMangel, Kalziummangel oder eine Störung des Hormonhaushalts sollten ausgeschlossen werden.
Zeigt sich eine entsprechende signifikante Fehlstellung im Sinne eines Genu valgum außerhalb der Normwerte, so ist die Therapie einzuleiten.
Konservative Therapie
Die konservative Therapie der Beinachsen beinhaltet Physiotherapie, Schienenbehandlung mittels vom Orthopädietechniker erstellten Prothesen, welche die außenseitige Wachstumsfuge entlasten. Ebenso können kleine Keile am Schuhaußenrand beziehungsweise Innenrand eventuell helfen.
Alle konservativen Methoden konnten bei idiopathischem Crus/Genu varum beziehungsweise valgum keinen statistisch signifikanten Erfolg erzielen. Bei einzelnen Krankheitsbildern wie Rachitis oder M. Blount können diese Maßnahmen hingegen erfolgreich sein.
Operative Therapie
Bei fehlender Besserung durch die konservative Therapie ist dann eine operative Sanierung zu empfehlen.
Vor der operativen Sanierung muss zwingend das Skelettalterbestimmung erfolgen. Hier kann nicht nur die Endgröße des Kindes bestimmt werden, sondern auch das verbleibende Wachstum in der zu therapierenden Fuge, in der Regel sind dies die distale Femurepiphyse sowie die proximale Tibiaepiphyse. Erst nach sorgfältiger Analyse dieser Wachstumsfugen und des verbleibenden Restwachstums sollte eine entsprechende Therapieplanung erfolgen.
Temporäre Epiphysiodese
Ein sehr elegantes Verfahren zur Korrektur der Fehlstellung während des Wachstums ist die sogenannte temporäre Epiphysiodese. Hierzu wird eine kleine Platte, z. B. Plate®/Fa. Orthofix (Abb. 2), oder Klammer an der Wachstumsfuge der zu langen Seite angebracht, über die Reduktion des Wachstums dieser Fuge und dem Belassen des Wachstums der kontralateralen Fuge wird die Beinachse korrigiert. Dies ist ein besonders schonendes Verfahren, welches nur während des Wachstums angewendet werden kann. Das Einsetzen der kleinen Platten oder Klammern dauert in der Regel nur circa 15 Minuten.
Das Kind kann direkt voll belasten und nach Abschluss der Wundheilung uneingeschränkt körperlich aktiv sein, deshalb wird diese Methode von den Kindern besonders gut toleriert. Danach erfolgt die Kontrolle des Wachstums und die Entfernung der Platten zum optimalen Zeitpunkt. Begleitet ein erfahrener Facharzt für Kinderorthopädie diese Prozedur, so lassen sich mit dem Verfahren sehr gute Ergebnisse erzielen (Abb. 1 und 3).
Wird bei der Untersuchung festgestellt, dass das verbleibende Restwachstum nur noch gerade ausreicht, um eine Korrektur durchzuführen, so besteht die Möglichkeit der sogenannten definitiven Epiphysiodese. Hierzu wird über eine Stichinzision ein Bohrer eingeführt und mit diesem der Anteil der Wachstumsfuge zerstört, welcher verschlossen werden soll. Dies führt zu einem frühzeitigen Verschluss und einer sehr effektiven Hemmung des Wachstums.
Sind die Wachstumsfugen bereits verschlossen oder soll bei komplexeren kombinierten Fehlstellungen sowohl die Achse als auch die Rotation korrigiert werden, so muss eine Osteotomie durchgeführt werden.
Bei jungen Patienten können diese Osteotomien oft über einfache Osteosynthesen mittels Kirschnerdraht fixiert werden; nach Wachstumsabschluss kommen winkelstabile Plattensysteme zum Einsatz (Abb. 4).
Fazit
Abweichung der Beinachse, aber auch der Rotation sind im Kindes- und jungen Erwachsenenalter keine Seltenheit und auch nicht zu jedem Zeitpunkt pathologisch. Nach sorgfältiger Analyse durch einen erfahrenen Kinderorthopäden stehen in Abhängigkeit von der Fehlstellung und dem Alter verschiedene operative Korrekturoptionen zur Verfügung. Konservative Maßnahmen sind hingegen leider nur selten erfolgreich.