Mai 2022 – Ausgabe 39
Funktionelle Untersuchung und nichtoperative Therapie des Schultergelenkes
Dr. med. Thomas Ambacher
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Schlüsselwörter: Schulterdiagnostik, EMG-Untersuchung
Muskelfunktionsstörungen sind ein wesentlicher Faktor für Schulterbeschwerden. Mithilfe der Elektromyographie (EMG) lässt sich die Muskelfunktion quantitativ und objektiv erfassen. Im Falle der Schulter wird die gesamte Funktionskette von der HWS/BWS bis zur Hand dynamisch und funktionell untersucht, was zu einer fundierten Beurteilung führt, ob z. B. ein Gelenkschaden muskulär kompensiert ist oder nicht.
Funktionelle Diagnostik inklusive EMG
Da das Schultergelenk ein überwiegend muskulär geführtes Gelenk ist, haben Muskelfunktionsstörungen als Folge von Gelenkschäden und Verletzungen an der Schulter immer deutliche Funktionsstörungen zur Folge. Zusätzlich kompliziert wird die Situation durch die Abhängigkeit des Schultergelenkes von der Funktion der Hals und Brustwirbelsäule sowie dem Schulterblatt (Abb. 1). Auch Beschwerden an Ellenbogen und Handgelenk können sich auf die Schulter auswirken. Zusätzlich spielen vor allem hormonelle und StressFaktoren bei entzündlichen Schultererkrankungen eine wesentliche Rolle.
Die zielführende Untersuchung des Schultergelenkes ist daher komplex, zeitaufwendig und muss die gesamte Funktionskette Halswirbelsäule – Brustwirbelsäule – Schulterblatt – Schultergelenk – Ellenbogengelenk – Handgelenk sowie die Lebensumstände und Begleiterkrankungen umfassen.
Entscheidend ist die systematische strukturierte Untersuchung der Funktionskette. Die Untersuchung umfasst folgende Faktoren:
- Befragung zur Entwicklung der Beschwerden
- Vorbehandlungen, Vorerkrankungen
- Lebenssituation
- Erwartungshaltung
- Klinische Untersuchung der gesamten Funktionskette HWS/BWS bis zur Hand
- Sonographische Untersuchung beider Schultergelenke
- EMGDiagnostik der Schulter und ggf. der Wirbelsäule
- Durchsicht von Röntgen- und MRTBildern falls vorliegend
- Erfassung psychosozialer und psychosomatischer Faktoren inklusive Arbeitsplatzsituation.
Bei zusammenfassender Betrachtung aller Untersuchungsbefunde kann bei den meisten Patienten die Ursache der Beschwerden geklärt werden. In Einzelfällen sind noch spezielle Blutuntersuchungen erforderlich. Die besondere Bedeutung der EMG Diagnostik an der Schulter resultiert aus der Muskelführung des Gelenkes. Muskelfunktionsstörungen lassen sich durch die übliche apparative Untersuchung nicht darstellen. Die manuelle Untersuchung durch den Arzt oder Physiotherapeuten erlaubt allenfalls eine grobe, subjektive Einschätzung, ob ein Muskel in seiner Funktion gestört ist, wird jedoch häufig auch übersehen und kann nicht objektiv beurteilt werden. Die EMGUntersuchung muss eingebettet sein in die körperliche Untersuchung der gesamten Funktions- kette der Schulter inklusive Sonographie und bei Bedarf auch Röntgendiagnostik und Kernspintomographie.
Die EMGUntersuchung erlaubt durch einfaches Aufkleben von kleinen Elektroden an der Haut über bestimmten Muskelgruppen die Messung der Muskelaktivität sowohl in Ruhe als auch unter sämtlichen im Alltag vorkommenden Bewegungen und Belastungen (Abb. 2). Somit ist die EMGUntersuchung im Gegensatz zu Sonographie, Röntgen und MRT eine dynamische funktionelle Untersuchung, welche die tatsächliche Funktion der ein schmerzendes Gelenk bewegenden Muskulatur darstellt. Dadurch können Funktionsstörungen, die als Folge von Gelenkschäden auftreten, für den Patienten eindeutig nachvollziehbar dargestellt werden. Die Darstellung der Muskelfunktion erfolgt auf dem Monitor eines Laptops in Form von Kurven oder Stabdiagrammen (Abb. 3).
Der Patient selbst erhält dadurch eine unmittelbare sichtbare Rückmeldung über die Aktivität seiner Muskulatur.
Die Darstellung erfolgt immer im Vergleich zur – in der Regel gesunden – Gegenseite. So werden krankhafte Veränderungen direkt erkennbar.
Die Vorteile der EMG-Untersuchung sind:
- Schmerz und nebenwirkungsfreie Untersuchungsmethode
- Quantitative und objektive Erfassung der Muskelfunktion
- -Untersuchung von Funktionsketten z. B. HWSSchulterArm
- Vermeidung operativer Behandlungen bei funktionellmuskulären Beschwerden
- Vermeidung von Operationen bei muskulär kompensierten Gelenkschäden
- Kontrolle von Verbesserungen unter nichtoperativer und operativer Behandlung
- FeedbackTraining
- Optimierung von Haltung und Funktion im Alltag und Sport.
Insbesondere bei den häufigen Schäden der Gelenksehnen und des KapselBandapparates von Gelenken erlaubt somit die EMGUntersuchung die Beurteilung, ob der Gelenkschadenmuskulär kompensiert ist oder nicht. Muskulär kompensierte Gelenkschäden können häufig nichtoperativ behandelt werden. Muskulär NICHT kompensierte Gelenkschäden erfordern in vielen Fällen eine operative Behandlung, wenn durch die nichtoperativen Behandlungsmaßnahmen innerhalb einiger Wochen keine Kompensation erreicht werden kann.
Die EMGUntersuchung ist daher grundsätzlich bei allen Gelenkschäden und -verletzungen zur Therapieplanung und -steuerung sinnvoll. Am nahezu aus schließlich muskulär geführten Schultergelenk kommt der EMGMethode eine besondere Bedeutung zu.
Die EMGUntersuchung wird daher in der ATOS Klinik Stuttgart bei allen Schulterpatienten im Rahmen der Erstuntersuchung zur Diagnostik und zur Planung der weiteren Behandlung eingesetzt.
Ganzheitliche nichtoperative Therapie bei Schultergelenksbeschwerden
Nach Abschluss und Bewertung der Untersuchung werden die Behandlungsmöglicheiten besprochen, worauf ein individueller Behandlungsplan erstellt wird. In der Regel ist die Behandlung erfolgversprechend, wenn sie patientenzentriert durchgeführt wird und verschiedene Säulen beinhaltet:
- Anpassung des Bewegungsmusters im Alltag, Sport und Beruf
- Modifikation und Reduktion der spezifischen Schulterbelastung
- Täglich individuelle Eigenübungen
- Lokale physikalische Maßnahmen
- Lokale medikamentöse Behandlung (Injektionen, z. B. Blutplasma)
- Bei Bedarf apparative Therapie z. B. mit Stoßwelle, Laser, TensGerät
- Gezielte, individuell angepasste Physiotherapie durch einen spezialisierten Physiotherapeuten
- Reduktion externer Stressparameter
Die Behandlung ist nur dann nachhaltig, wenn der Patient in die Therapie mit einbezogen ist und Eigenverantwortung für die therapeutischen Maßnahmen übernimmt, die dann nach entsprechender Aufklärung und Anleitung durch Arzt und Therapeut zu mindestens 50 % in Eigenregie erfolgen sollten. Bei konsequenter Anwendung der nichtoperativen Behandlungsmaßnahmen kann bei 80-90 % der Patienten innerhalb von 36 Monaten wieder eine schmerzarme Schulterfunktion hergestellt werden. Bei anhaltenden inakzeptablen Beschwerden verbleibt dann als Option die operative Therapie.