Mai 2020 – Ausgabe 35
Die traumatische Erstluxation der Schulter – beim Sportler immer eine OP-Indikation?
Prof. Dr. med. Markus Loew
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Prof. Dr. med. Marc Schnetzke
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Dr. med. Sven Lichtenberg
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Keywords: traumatische vordere Schulterluxation, AGHL, arthroskopische Rekonstruktion, Korakoidtransfer, Sportfähigkeit
Die traumatische vordere Schulterluxation ist die häufigste Gelenksverrenkung des menschlichen Körpers. Das Lebenszeitrisiko eines mindestens einmaligen derartigen Ereignisses beträgt in der Normalbevölkerung etwa 2 Prozent. Gleichzeitig ist es eine sehr häufige Verletzung im Sport. Tritt die Erstluxation vor dem 25. Lebensjahr auf, ist das Rezidivrisiko vor allem bei Sportlern sehr hoch. Ohne operative Stabilisierung der Schulter wird weniger als die Hälfte der Betroffenen wieder sportfähig.
Der typische Verletzungsmechanismus der traumatischen vorderen Schulterluxation (anteriore glenohumerale Luxation = AGHL) ist der Sturz auf den nach hinten oder seitlich ausgestreckten Arm (z. B. Fußball), der Griff in den Wurfarm (z. B. Handball oder Basketball) und die unkontrollierte Gewalteinwirkung bei Kollisions- oder Kampfsportarten (z. B. Ringen oder Rugby). Unter männ lichen High-School Rugbyspielern beträgt die Prävalenz der AGHL nach einer Studie von Kawasaki et al. insgesamt etwa 15 % oder 4 % pro Wettkampfsaison (8).
Rezidivraten
Nach der traumatischen AGHL ist das häufigste Problem das rezidivierende Wiederauftreten von vollständigen Luxationen oder Subluxationen der Schulter. Das Rezidivrisiko wird in der Literatur allerdings kontrovers dargestellt. Es ist abhängig vom Lebensalter, vom Schädigungsmuster und vom (sportlichen) Belastungsanspruch der Betroffenen. In einer aktuellen landesweiten Untersuchung in Taiwan betrug diedokumentierte Rezidivrate nach AGHL innerhalb von 3 Jahren insgesamt lediglich 19,5 %, im Alter unter 20 Jahren stieg sie auf 50 % (7). Vor dem 20. Lebensjahr beträgt dasRisiko nach einer Untersuchung von Deitch et al. nach dem Wachstumsabschluss 88 % (3). Eine Studie von Postacchini et al. hatte in der gleichen Altersgruppe in 92 % Rezidivluxationen beobachtet – bei den jungen Patienten ohne Rezidiv zeigte die Mehrzahl zudem klinische Zeichen einer persistierenden Instabilität mit Belastungsschmerzen und Subluxationen (9).SPORTFÄHIGKEITErwartungsgemäß führt daher eine AGHL in den meisten Fällen zur Beeinträchtigung der sportlichen Belastbarkeit. In einer Untersuchung an amerikanischen Collegesportlern von Dickens et. al. Konnten von 39 Personen mit einer traumatischen Erstluxation lediglich 4 (10 %) in der darauffolgenden Saison eine Kontaktsportart ausüben, 6 Personen (15 %) waren sportunfähig und 29 Sportler (74 %) unterzogen sich zeitnah nach der Verletzung einer arthroskopischen operativen Stabilisierung. Von den operierten Sportlern konnten 26 Personen (90 %) in der darauffolgenden Saison ihre Sportart uneingeschränkt unter Wettkampfbedingungen ausüben (4).
Verletzungsmuster
Der isolierte Abriss der ventralen faserknorpeligen Gelenklippe (Labrum glenoidale) ist die häufigste strukturelle Schädigung bei der traumatischen Schulter-luxation des jungen Patienten (Abb. 1). Die Nicht- oder Fehlheilung dieser bradytrophen Struktur und die irreversible Überdehnung der ventralen Ligamente sind, bei gleichzeitig hoher Elastizität des Bindegewebes, Ursachen für die persistierende Instabilität. Der regelmäßig auftretenden Impression der dorso-kranialen Gelenkfläche am Humeruskopf (Hill-Sachs-Delle) kommt demgegenüber nur dann eine Bedeutung zu, wenn sie weit zentral gelegen oder zusätzlich der ventrale Mechanismus massiv instabil ist (Off-Track-Läsion, Di Giacomo) (5). Im mittleren Lebensalter sind knöcherne Abscherfrakturen des ventralen Pfannenrandes (Bankart-Fraktur) häufiger; diese zeigen eine gute Spontanheilungstendenz. Erst ab dem 7. Lebensjahrzehnt spielte die traumatische Rotatorenmanschettenläsion durch die Schädigung des posterioren Mechanismus für das Eintreten posttraumatischer Beschwerden nach AGHL eine Rolle.
Operationsindikationen
Wegen der hohen Rezidivrate bei Patienten vor dem 25sten Lebensjahr wird, unabhängig vom sportlichen Belastungsanspruch, verbreitet bereits nach der ersten traumatischen Schulterluxation eine arthroskopische Rekonstruktion der Labrum-Kapsel-Bandläsion empfohlen, da die Erfolgsaussichten mit der Häufigkeit der vorausgegangen Luxationen ab- und das Risiko einer Instabilitätsarthropathie im Langzeitverlauf zunehmen. Bei Überkopf- und Kontaktsportlern empfiehlt die französische Arbeitsgruppe Balg und Boileau die Anwendung eines Instability Severity Index Scores (ISIS) und in Abhängigkeit vom Schädigungsmuster v.a. bei knöchernen Pfannenrandläsionen und bei zentraler Hill-Sachs-Delle die Durchführung eines primären Korakoidtransfers (OP nach Latarjet) (1).
Die Arthrokopische Rekonstruktion
Bei der arthroskopischen Labrum-Kapsel-Bandrekonstruktion erfolgt unter Verwendung von 2-3 resorbierbaren Fadenankern eine Wiederbefestigung des abgerissenen Labrum glenoidale gemeinsam mit der Kapsel und dem inferioren glenohumeralen Ligament (IGHL) am vor deren Pfannenrand. Gleichzeitig kann bei einer relevanten Elongation ein inferiorer Kapselshift erfolgen.
Bei der meistens noch flachen und weit dorso-kranialen Hill-Sachs-Delle (Off-Track-Läsion) kann so in den meisten Fällen durch einen relativ atraumatischen Eingriff eine weitgehende Restitutio ad integrum erreicht werden. Nachteil des arthroskopischen Vorgehens ist die relativ lange Rehabilitationszeit. Nach einer initialen Ruhigstellung über 3 Wochen kann erst nach 6 Wochen ein Muskelaufbautraining begonnen und die Schulter zur Alltagsbelastung freigegeben werden. Weniger risikobehaftete Sportarten sind nach 3 Monaten möglich; Kontakt- oder Wurfsportarten mit Gegnerkontakt sind frühestens 4 und spätestens 6 Monate nach der Operation zu empfehlen. Die Rezidivrate nach Wiederaufnahme von Überkopfsportarten beträgt nach Blonna et al. im Langzeitverlauf etwa 10 % (2).
Der Korakoidtransfer
Bei der Operation nach Latarjet erfolgt, meist in offener Technik, eine Versetzung der Spitze des Proc. coracoideus mit den dort inserierenden Sehnen des M. biceps (caput breve) und des M. coracobrachialis an den vorderen Glenoidrand.
Die Stabilisierung erfolgt statisch über die Verlängerung des Pfannenprofils und dynamisch durch die Conjoint Tendon, die in der Außenrotation eine Ventralisierung des Humeruskopfes verhindert. Dieser Eingriff führt auch bei Off-Track-Läsionen mit Pfannenranddefekt und zentraler Hill-Sachs-Delle zu einer zuverlässigen Stabilisierung der Schulter. Es handelt sich allerdings um ein extraanatomisches Verfahren mit nicht ganz geklärter Veränderung der Kinematik des Gelenkes.
Ein Vorteil ist die relativ frühzeitige Belastbarkeit. Nach der knöchernen Einheilung des Transplantates 6 Wochen postoperativ kann mit einem Muskelaufbau ohne Einschränkungen und auch mit einem sportartspezifischen Training für alle Wurfsportarten begonnen werden. Risikobehaftete Kontaktsportarten wie Judo oder Rugby sollten allerdings erst nach 3 Monaten wieder begonnen werden. Die Rezidivrate bei Wurfsportlern wird von Blonna et. al. mit 0% angegeben, allerdings mit einer endgradigen Bewegungseinschränkung gegenüber den arthroskopisch Stabilisierten (2).
Fazit
Wegen der hohen Rate an Luxationsrezidiven oder Subluxationen ist generell, besonders aber bei ambitionierten Freizeit- und noch mehr bei Leistungssportlern, die Wurf- oder Kontaktsportarten ausüben, nach einer traumatischen Erstluxation eine primäre operative Stabilisierung zu empfehlen. Weniger als die Hälfte dieser Sportler ist ohne Operation in der Lage, ihren Sport weiter auszuüben.Bezüglich der Operationstechnik gelten zumindest in unserem Team die folgenden Empfehlungen:
- Bei dem klassischen Verletzungsmuster ist die arthroskopische Labrum-Kapsel-Band-Rekonstruktion die Operation der Wahl, weil sie als anatomisches Verfahren mit geringer sekundärer Morbidität eine strukturelle Restitutio ad integrum herstellen kann.
- Der Korakoidtransfer ist ein Reserveverfahren bei Off-Track-Läsionen, bei extrem hohem Belastungsanspruch in Risikosportarten, bei der Notwendigkeit, einen riskanten Kontaktsport sehr frühzeitig wiederaufzunehmen, und nach fehlgeschlagener arthroskopischer Stabilisierung.