Mai 2025 – Ausgabe 45
Die prägendsten Erfahrungen in meinem Spezialgebiet Schulterchirurgie
Prof. Dr. med. Markus Loew
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Wie ich zur Schulterchirurgie gekommen bin
1985, d. h. genau vor 40 Jahren, durfte ich als zivildienstleistender Arzt in einem städtischen Krankenhaus im Saarland unter Anleitung und Aufsicht des Oberarztes zum ersten Mal bei einer jungen Frau eine luxierte Schulter reponieren. In der Technik nach Hippokrates, ohne Sedierung, und es ging recht einfach, denn es war eine Rezidivluxation. Eine Woche später war die Patientin allerdings wieder in der Ambulanz, und ich durfte die Prozedur dieses Mal selbstständig wiederholen.
Eine Operation kam in dieser Klinik nicht infrage; der leitende Unfallchirurg befand, dass dies zu kompliziert und risikoträchtig sei. Das wollte ich nicht glauben. Ich besorgte mir in der Universitätsbibliothek einige Originalarbeiten zu diesem Thema, was nicht einfach war, denn man musste wochenlang auf die Zusendung per Post warten. Und tatsächlich gab es in der deutschsprachigen Literatur nur zwei geläufige Operationsverfahren: die OP nach Max Lange, bei der die Schulterpfanne mit einem eingebolzten Tibiaspan „aufgebogen“ und verlängert wurde, und die subkapitale Drehosteotomie nach Weber. Beides waren aufwendige und traumatische Operationsverfahren, die mit einem erheblichen Komplikationsrisiko und gravierenden Spätfolgen behaftet waren.
Ein paar Wochen später traf ich in einem AOKurs Peter Habermeyer, der in den kommenden Jahren mein „Spiritus Rector“, später zeitweilig ein geschätzter Konkurrent und schließlich über viele Jahre mein Praxispartner in der ATOS Klinik und mein Freund wurde. Habermeyer hat in der Chirurgischen Universitätsklinik Innenstadt in München die erste Schulterambulanz Deutschlands gegründet und mit einer Veröffentlichung über Untersuchungstechniken den Stein ins Rollen gebracht. 1986 durfte ich in der Klinik in der Nußbaumstraße als Assistenzarzt anfangen und konnte damit zunächst Beobachter, später Helfer und schließlich auch aktiv Mitwirkender in einem Spezialgebiet werden, das eine rasante und damals nicht vorstellbare Entwicklung genommen hat.
Wo stand die Schulterchirurgie in den 1980er Jahren?
Keine Kernspintomographie
Schulterschmerzen galten als schicksalhaft und wurden mit dem Begriff Periarthrosis humeroscapularis banalisiert. Neben den genannten Operationsverfahren bei der Instabilität gab es verbreitet nur die Narkosemobilisation zur Behandlung der Frozen Shoulder. Bei Verdacht auf eine Läsion der Rotatorenmanschette hatte man nur seine Hände zur Untersuchung zur Verfügung – und die Kontrastarthrographie, die aber nicht viele Radiologinnen und Radiologen sicher beherrschten. Achim Hedtmann hat dann Ende der 1980er Jahre die Sonographie an der Schulter etabliert und systematisiert und damit die Kenntnisse der funktionellen Anatomie erheblich bereichert.
Keine Arthroskopie
Wie es im Schultergelenk aussah, wusste man von anatomischen Präparaten und gezeichneten Abbildungen. Wenig Ahnung hatte man von der Dynamik der glenohumeralen Bänder, des Labrum glenoidale, der Bizepssehne und des Pulley, geschweige denn von deren Pathologien. Unvergesslich bleibt mir die erste Schulterspiegelung, der ich beiwohnen durfte. Ausgeführt durch vier renommierte deutsche (und österreichische) Chirurgen in der Münchner Uniklinik. Die Experten haben durch das Okular wenig gesehen – ich selbst überhaupt nichts. Und geholfen wurde der Patientin mit dem Eingriff nicht, denn die interventionelle Arthroskopie steckte noch in ihren Kinderschuhen. Man hatte keine Monitore, keine Druckpumpen, keine spezifischen Instrumente und kaum Vorstellungen darüber, wie man sich ohne Blutleere in den periartikulären Räumen zurechtfinden sollte. Heute wird die überwiegende Mehrzahl der Eingriffe am Schultergelenk endoskopisch ausgeführt.
Keine etablierte Endoprothetik
Der Gelenkersatz war komplexen Frakturen (Charles Neer hatte eine Monoblockprothese auf den Markt gebracht, Paul Marie Grammont hatte ein inverses Implantat entwickelt) und Tumoren (hier gab es eine isoelastische Prothese, die aber nur als Platzhalter diente) vorbehalten. Schritt für Schritt wurden zunächst der individuellen Anatomie angepasste anatomische, dann inverse, später modulare und schließlich konvertierbare Prothesensysteme entwickelt, bevor sich erst in diesem Jahrhundert die Schulterprothetik als ein Standardverfahren etablieren konnte. Ich werde nicht vergessen, wie ich in den frühen 1990er Jahren, eben erst Facharzt in der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg geworden, autodidaktisch und mit zögernder Billigung meines Chefs, Horst Cotta, bei einer veralteten und verhakten hinteren Luxation mit weitgehender Zerstörung der humeralen Gelenkfläche meine erste anatomische Monoblockprothese (Typ Neer IITM) implantieren durfte. Der Eingriff dauerte fünf Stunden und blieb Gesprächsthema in der Klinik. Das Röntgenbild sah sonderbar aus (Abb. 1), aber ich habe den Patienten über viele Jahre verfolgt und den „Fall“ in späteren Vorträgen oft als Eyecatcher verwendet. Heute umfasst unser Schulterprothesenregister mehr als 2.000 Fälle.
Wie entwickelte sich die Schulterchirurgie weiter?
Es taten sich Arbeitsgruppen zusammen: im deutschsprachigen Raum mit den Münchnern um Habermeyer, in Österreich mit Resch, in der Schweiz mit Gerber, Hertel und mit vielen weiteren ambitionierten Chirurginnen und Chirurgen. Die französische Schule um Walch und Boileau, die amerikanische um Rockwood, Bigliani, Iannotti, die englische um Copeland und Wallace – man traf sich immer wieder weltweit, tauschte Erfahrungen aus, diskutierte und stritt konstruktiv. Ermöglicht und angetrieben wurde die geradezu revolutionäre Entwicklung durch das Ingenieurwesen und Management der medizintechnischen Unternehmen, die natürlich ein großes kommerzielles Interesse am Weiterkommen der Arthroskopie und der Endoprothetik hatten.
Von diesen Aktivitäten habe ich sehr profitiert und musste nicht länger im eigenen Saft schmoren. Ich konnte an multizentrischen Studien mitwirken und bei der Entwicklung einer modularen Kurzschaftprothese, die zeitweilig die weltweit am häufigsten implantierte gewesen ist, Ideen einbringen und verwirklichen. Der internationale Erfahrungsaustausch hat meine Tätigkeit bis heute geprägt.
Schulterchirurginnen und -chirurgen als Berufsgruppe
In den 1980er Jahren formierte sich mit Achim Hedtmann als erstem Leiter ein Grüppchen Schulterbegeisterter zu einem Arbeitskreis in der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (DGOT). Sie veranstalteten Fortbildungskurse und jährliche Treffen im Rahmen der Jahreskongresse, bis ihnen dieses Umfeld zu klein wurde. Die Deutsche Vereinigung für Schulter- und Ellenbogenchirurgie (DVSE) wurde 1994 mit etwa 200 Mitgliedern zuerst ein eingetragener Verein und dann eine eigenständige Sektion der DGOT. Die Zusammenarbeit von Orthopädie und Unfallchirurgie hatte zu dieser Zeit Pioniercharakter, lange bevor sich diese Fachgesellschaften übergreifend zusammenschlossen. Heute sind in der DVSE mehr als 1.300 Ärztinnen und Ärzte organisiert, und die Schulterchirurgie arbeitet an ihrer Anerkennung als „Schwerpunktbezeichnung“.
Im Jahr 1997 hatte ich das Privileg, in der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg die erste Sektion für Schulter- und Ellenbogenchirurgie in Deutschland zu gründen. Immer mehr Fachleute der Orthopädie und Unfallchirurgie begannen sich auf dieses Spezialgebiet zu fokussieren. Da die Ausbildungsqualität in der Fläche, aber auch in den Universitätskliniken zu diesem Zeitpunkt noch sehr unterschiedlich war, entwickelte die DVSE in den 2000er Jahren unter meiner Präsidentschaft, durchaus gegen Widerstände in der DGOT, ein Zertifikat, mit dem sich Fachärztinnen und -ärzte durch Absolvierung theoretischer und praktischer Weiterbildungsmodule in der Schulterchirurgie freiwillig weiterqualifizieren konnten. Dieser Einsatz in der Berufspolitik hat mir persönlich und für mein Spezialgebiet neue Perspektiven eröffnet.
Höhepunkt dieser eigenständigen Entwicklung und weiterer prägender Moment meines Berufslebens war die Gründung einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift für Schulter-, Ellenbogen- und Handchirurgie mit dem Springer Verlag in Heidelberg (Abb. 2).
Quo vadis Schulterchirurgie?
Wie vor 40 Jahren ist auch jetzt nicht absehbar, wohin die Reise unseres Spezialgebiets führen wird. Vieles, was heute unvorstellbar erscheint, wird in einer Fachgeneration Wirklichkeit sein. Die weitere Entwicklung der dynamischen Bildgebung, der Operationsplanung, der Navigationssysteme, der Robotik und der künstlichen Intelligenz in der Medizin – all das eröffnet Möglichkeiten, die Schulterchirurgie weiter zu perfektionieren. Für alle daran Interessierten sind Neugier, Offenheit für die Entwicklung und Gestaltungswille jeder und jedes Einzelnen wesentlich – die Erlebnisse dabei können das Berufsleben und mit ein bisschen Glück auch das Spezialgebiet ein kleines Stück auf dieser Reise prägen.