Oktober 2019 – Ausgabe 34

Die Dynamische MPFL-Rekonstruktion zur Therapie der instabilen Patella

Im Vergleich zu statischen Techniken sind dynamische Rekonstruktionstechniken des Medialen Patellofemoralen Ligaments (MPFL) zur Therapie der instabilen Patella in der Literatur seltener beschrieben. Die in diesem Beitrag vorgestellte dynamische Technik besteht aus einer Versetzung des distalen Grazilis- oder Semitendinosus-sehnenansatzes an den medialen Patellarand.

Einleitung

Die Patellainstabilität ist v.a. bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein häufig anzutreffendes Krankheitsbild am Knie. Die Inzidenz der primären akuten Patellaluxation wurde mit 5,8/100.000 Personen angegeben und erhöht sich bei Adoleszenten zwischen dem 10. und 17. Lebensjahr auf 29/100.000. Falls bei einem Patienten bereits mehr als eine Luxation aufgetreten ist, steigt das Risiko für rezidivierend auftretende Luxationen in Abhängigkeit der vorhandenen Risikofaktoren erheblich an.

Die Luxation der Patella erfolgt fast immer nach außen. Dem Verletzungsmechanismus liegt neben traumatischen Ursachen (z. B. Anpralltrauma von medial bei Kontaktsportarten) häufig ein Valgusmoment des Knies bei beginnender Flexion unter Belastung und zusätzlicher Außenrotation der Tibia zugrunde. Hieraus resultiert eine Zunahme des lateralisierenden Kraftvektors auf die Patella, welche zur Luxation der Patella führt, wenn die Gewebebelastbarkeit der medial stabilisierenden Weichteilfaktoren überschritten wird und eine ausreichende knöcherne Führung fehlt.

Prinzipiell sollten Patienten mit rezidivierenden Patellaluxationen einer operativen Therapie zugeführt werden. Die Orientierung an einem Therapiealgorithmus ist zu empfehlen, wobei die determinierenden Parameter für die Pathologie dabei immer als Richtwerte anzusehen sind. Die rezidivierende laterale Patellaluxation ist ein dynamischer Prozess – es darf bei der Entscheidung der operativen Therapieform nicht vergessen werden, dass die bei der Bildgebung gewonnenen Informationen in der Regel ohne Muskelaktivität im Liegen erhoben wurden. Zudem sind patientenindividuelle Parameter (z. B. Alter, Aktivitätsgrad, Leidensdruck, sonstige Pathologien an Knie und Bewegungsapparat etc.) zu berücksichtigen.

Die dynamische MPFL-Rekonstruktion zur Therapie der instabilen Patella

Das Mediale Patellofemorale Ligament (MPFL) stellt die wichtigste Weichteilstruktur gegen eine Translation der Patella nach lateral dar. In biomechanischen Studien wurde gezeigt, dass das MPFL mit bis zu 90 % den größten Beitrag der medialen Strukturen zum Widerstand gegen die Patellalateralisierung zwischen 0 und 30° Knieflexion leistet. Dynamische Rekonstruktionstechniken des MPFL sind in der Literatur im Vergleich zu den statischen Techniken eher unterrepräsentiert. Dies mag hauptsächlich an der prinzipiell extraanatomischen Rekonstruktion des MPFL liegen, allerdings bringt die hier vorgestellte Technik der dynamischen MPFL-Rekonstruktion mit Versetzung des distalen Grazilis- oder Semitendinosussehnenansatzes an den medialen Patellarand auch mehrere Vorteile mit sich. Da femoral keine Fixierung erfolgen muss, besteht keine Gefahr, noch offene Wachstumsfugen bei Kindern und Adoleszenten zu schädigen. Zudem ist das Risiko zur Malpositionierung des Transplantates mit dadurch resultierender Überspannung und Erhöhung des retropatellaren Druckes sehr gering. Dies konnte in biomechanischen Untersuchungen mit aktiver Simulation der Spannung der Semit-endinosussehne nachgewiesen werden – im Gegensatz zur Situation bei statischer Rekonstruktion des MPFL.

Dabei kam es weder zu einer signifikant vermehrten Medialisierung der Patella noch zu einer retropatellaren Druckerhöhung. Weiterhin ist im klinischen Alltag vorteilhaft, dass keine intraoperative Röntgenbildgebung zur Darstellung der femoralen Insertion notwendig ist. Bereits 1959 beschrieb Horst Cotta in seiner Publikation „Zur Therapie der habituellen Patellaluxation“ auch eine Technik von Lanz aus dem Jahre 1904 mit Verpflanzung der Grazilissehne nach Ablösen am Pes anserinus, Tunnelung durch die mediale Kapsel und Fixierendurch Naht an der medialen Patella.

Diese Beschreibung kann als prototypischer Eingriff und ältester Bericht einer „dynamischen“ Rekonstruktion des MPFL betrachtet werden. Die ausführliche Beschreibung und Weiterentwicklung der Technik erfolgten 2007 von Ostermeier et al. Erste klinische Ergebnisse innerhalb eines Jahres nach der Operation waren positiv. Kein Patient erlitt eine Reluxation der Patella. Der Kujala-Index (maximal 100 Punkte) stieg durchschnittlich von 59 Punkten präoperativ auf 97 Punkte bei der Nachuntersuchung. Die Technik wurde im Verlauf nochmals von Becher et al. 2013 modifiziert beschrieben.

In einer retrospektiven Kohortenstudie im Vergleich zur statischen Technik nach Schöttle et al. konnten Becher et al. in ihrer Publikation aus dem Jahre 2014 keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Verfahren feststellen. Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass die hier dargestellte, nochmals modifizierte Technik der dynamischen MPFL-Rekonstruktion eine valide Alternative im Rahmen der zur Verfügung stehenden Optionen darstellt.

Indikationen zur dynamischen MPFL-Rekonstruktion

Isoliert bei strecknahen Instabilitäten oder kombiniert mit allen sonstigen operativen Therapieformen.

Kontraindikationen zur dynamischen MPFL-Rekonstruktion

Vorliegen einer neurogenen Instabilität und/oder Störung der ischiokruralen Muskulatur; Zustand nach Ersatz des vorderen Kreuzbandes mit Semitendinosus- und Grazilissehne.

Operative Technik

Die Operation kann in Rückenlage am liegenden oder hängenden Bein durchgeführt werden. Die Verwendung einer Oberschenkel-Blutsperre ist optional. Bei Verwendung ist aber auf jeden Fall darauf zu achten, dass die Blutsperre in max. Flexion aufgepumpt wird, um eine Proximalisierung der Patella durch die Kompression des M. quadrizeps zu vermeiden. Eine diagnostische Arthroskopie sollte der MPFL-Rekonstruktion vorausgehen. In ca. 80 – 90° Flexion erfolgt dann nach Palpation des Pes anserinus und 2 cm langer Inzision im Verlauf des Pes-Oberrandes die Darstellung der Sartoriusfaszie. Diese wird mit der Schere präpariert und die unter ihr liegende Grazilis- oder Semitendinosussehne identifiziert. Die Grazilis- oder Semitendinosussehne wird so weit wie möglich distal abgesetzt und armiert. Nach Befreiung der Sehne erfolgt die zweite Inzision von ca. 2 – 3 cm Länge am medialen Patellarand. Nach knöcherner Darstellung erfolgt nun im Zentrum der anatomischen Insertion des MPFL eine transpatellare Bohrung mit einem 2 mm durchmessenden Bohrdraht mit Öse. Dieser Draht wird danach mit einem kanülierten 4,5-mm-Bohrer bis zu einer Tiefe von ca. 20 mm überbohrt. Oberhalb der Sartoriusfaszie wird nun mit einer Klemme ein Tunnel gefertigt, die Fadenenden der armierten Sehne werden gefasst und nach proximal gezogen. Die inzidierte Faszie dient distal als Umschlagpunkt der Sehne. Falls die Sehnenlänge zur sicheren transpatellaren Fixierung nicht ausreicht, kann die Faszie zur Proximalisierung des Umschlagpunktes weiter inzidiert werden. Nach Einbringen der Fadenenden in die Öse des Bohrdrahtes wird dieser nach lateral transkutan ausgeleitet. Die Sehne wird nun knöchern eingezogen, mit einer 5,5-mm-Biotenodeseschraube in ca. 30° Knieflexion fixiert und der Armierungsfaden medial entfernt.

Fazit

Die nichtanatomische dynamische MPFL-Rekonstruktion mit Transfer der Grazilis- oder Semitendinosussehne hat sich im Alltag bewährt und weist bei guten Ergebnissen nur ein geringes Komplikationsrisiko auf. Die end-gültige Spannung der Sehne adaptiert sich im Verlauf der Rehabilitation selbst. Dadurch wird eine Überspannung mit den eventuellen Folgen des frühzeitigen Gelenkverschleißes und vermehrter Schmerzen vermieden.

Anmerkung

Die Weiterentwicklung der Technik erfolgte in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. S. Ostermeier (Gelenkklinik Gundelfingen/Freiburg). Die Durchführung der OP und Anfertigung der Bilder erfolgte in Zusammenarbeit mit Dr. L. Hagemann und Dr. F. Goede (Orthopädische Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover im Annastift).

Von Christoph Becher