Oktober 2019 – Ausgabe 34

Die anatomische Prothese des Kniegelenkes: Nahe am normalen Kniegelenk?

Eine weitere Verbesserung der Ergebnisse der Knieendoprothetik könnte über neuere kinematische Konzepte erfolgen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Kreuzbänder, da ihr Fehlen die Kniekinematik verändert, sowie die Kopplung zwischen Tibia und Femur. Neue Prothesendesigns gehen darauf ein und nähern sich auch in ihrer Form der natürlichen Knieanatomie.

Die Geschichte der Endoprothetik des Kniegelenkes ist eine Erfolgsgeschichte. Aus den anfänglichen Scharniergelenken entwickelten sich zunehmend Prothesen, welche die kinematische Funktion des Kniegelenks zu erhalten versuchen und den funktionellen Strukturen des Kniegelenkes nach und nach angepasst wurden und immer noch werden. In der heutigen Gesellschaft geben sich große Teile der Patienten nicht mehr mit einem schmerzfreien Kniegelenk, egal welcher Beweglichkeit und welcher Mechanik, zufrieden. Zumindest in der westlichen Welt mit gehobeneren Ansprüchen, möchten gerade Patienten im mittleren Alter, trotz schwerster Knorpelzerstörung und Einschränkung der Beweglichkeit, wieder zurück zu ihren Freizeitaktivitäten. In der neueren Entwicklung der Kinematik der Knieendoprothesen haben sich zwei konkurrierende Modelle in den letzten Jahren etabliert. Das eine ist die kreuzbanderhaltende Prothese (hinteres Kreuzband erhaltende Prothese). Das zweite ist die posterior stabilisierende Prothese mit Resektion des vorderen und hinteren Kreuzbandes. Bei beiden Prothesen wird das vordere Kreuzband reseziert.

Ohne im Einzelnen auf die seit Anbeginn dauernden Diskussionen über die Superiorität einer der Design-Formen einzugehen, gibt es jedoch auch Gemeinsamkeiten. Eine dieser Gemeinsamkeiten ist, dass die Radien des Femurs medial und lateral – im Gegensatz zum normalen Kniegelenk – gleich sind. Unter diesem Aspekt ist bezüglich des Designs der Prothesen ein weiterer Wettbewerb zwischen Single-Radius und multiplem Radius vorhanden. Aufgrund der Kopplungsmechanismen zwischen Tibia und Femur zeigt sich, mit oder ohne Kreuz-band, ein kinematisch unterschiedliches Muster. Die „Posterior Stabilized“ Prothese ist ein „vorderes und hinteres Kreuzband defizientes Knie“, welches bis 90 Grad eine paradoxe Bewegung des Femurs hat und leicht nach vorne geht. Im Gegensatz zum normalen Knie hat dieses bei über 90 Grad einen lateralen Pivot, sprich ein laterales Drehmoment mit abnormer Rotation nach posterior und Translation des Femurs. Im Bereich des patellofemoralen Gelenkes kommt es zu medio-lateralen Scherkräften. Insgesamt überzeugt das Knie durch eine sehr gute Beugung aufgrund der Resektion des hinteren Kreuzbandes. Es ergibt sich jedoch eine Instabilität in der Mittelphase der Bewegung, die von verschiedenen Patienten unterschiedlich bewertet wird. Das Gros der amerikanischen Patienten mit deutlichem Übergewicht und geringer Aktivität empfindet diese Art von Prothese als sehr funktionell, da die Beweglichkeit gut erhalten ist und die Beugung gut wiederhergestellt wird. Eine Schwach-stelle ist jedoch die erhebliche Belastung des Zapfens im Kasten, der gerade bei nicht ausreichend balancierten Kniegelenken einer Hebelfunktion mit erhöhtem Abrieb ausgesetzt ist. Die CR – „Cruciate Retaining“ – Prothese   mit Erhalt des hinteren Kreuzbandes weist eine komplett andere Kinematik auf. Hierbei handelt es sich nur um ein „vorderes Kreuzband defizientes Knie“. Es gibt kein „Roll Back“, wie es im normalen Knie der Fall ist, sondern ein „Vorwärtsrollen“ des Femurs in der Flexion. Die tibiale Rotation ist falsch und durch das Fehlen des vorderen Kreuzbands gibt es kein genaues Rotationszentrum, sondern es ist variabel.Der Vorteil dieser Prothese ist eine gute Stabilität auch in der Mittelphase der Bewegung. Bei Verkürzungen des hinteren Kreuzbandes kommt es jedoch häufig zu einer deutlichen Einschränkung der endgradigen Beugung. Dies hängt auch damit zusammen, dass vom Operateur ein tibiales Offset (Abstand/Absatz) „nicht optimal wiederhergestellt“ wird. Ein weiterer Vorteil ist aber, dass aufgrund der großen Kontaktfläche bei Rotation und Translation der Polyethylen-Abrieb, zumindestens in den Laboruntersuchungen, geringer sein soll und damit die Standzeiten der Prothesen wahrscheinlich länger sind.Ziel der Knieendoprothetik ist das schmerz- freie Kniegelenk mit einer guten vollständigen Funktion und Beweglichkeit sowie einer langen Standzeit mit geringem Polyethylen-Abrieb.

In der internationalen Literatur finden wir Standzeiten von 95 % über zehn Jahre und mehr als 90 % über 15 Jahre. Es muss jedoch dezidiert werden, dass all diese Studien strengen Kriterien der evidenzbasierten Medizin nicht standhalten. Es sind meistens Level IV-Studien. Wobei sicherlich in der longitudinalen Erfassung nur ein Bruchteil der operierten Patienten im Vergleich zu den nach 15 Jahren erfassten Patienten wieder evaluiert werden konnte.Nichtsdestotrotz werden diese Daten in der wissenschaftlichen Diskussion als real und wahrhaftig akzeptiert. Die Problematik der „missing data und drop outs“, die sicherlich bei vielen häufig zitierten Studien bis zu 80 % beträgt, muss aber in der Gesamtbewertung immer berücksichtigt werden.

Wie lassen sich die Ergebnisse weiter verbessern?

Jedoch unabhängig davon ist die Knieendoprothetik in Händen des Experten unbestreitbar eine Erfolgsgeschichte. Es stellt sich nun die Frage, da wir in der Literatur so gute Ergebnisse haben, was man optimieren kann, um diese Ergebnisse noch zu verbessern?

Wie schon am Anfang erwähnt, werden die Anforderungen der Patienten an die Prothesen immer höher, im Sinne von Beibehaltung der herkömmlichen Freizeitaktivitäten wie Walking, Wandern, Golfspielen, Tennisspielen, Skifahren etc. Hier ist natürlich die Frage einer verbesserten Beweglichkeit zentral, da mit einer Beweglichkeit von 90 –   110 Grad in der Beugung zumindest eine Behinderung in der Ausübung der Freizeitaktivitäten besteht. Den Anforderungen an das Design wurde mit dem Konzept der anatomischen Bicruciated Stabilizing (Kreuzband stabilisierende) -Prothese Rechnung getragen. Die besonderen Merkmale im Design zeichnen sich in der Form aus. Es wird versucht, das Kniegelenk in der Designform des anatomischen Femurs und der Tibia nachzuempfinden (Abb. 3). Dies bedeutet einen größeren lateralen und einen kleineren medialen Radius, ein asymmetrisches Tibiaplateau mit größerem medialen Plateau, welches konkav ist, und einem kleineren lateralen Plateau, welches konvex ist. Zusätzlich zeigt sich wie bei der normalen Knieachse ein Valgus von 3°.

Die Verbindung der anatomischen Strukturen in eine natürliche Kinematik ist mit einem asymmetrischen Zapfenkammer-Mechanismus, der die kreuzbandstabilisierende Funktion nachahmt, konzipiert worden.

Die Anforderungen beim „radiated motion knee“-Design an die geführte Kniebewegung sind eine Wiederherstellung der anterioren Stabilität sowie eine normale Kinematik und das Erreichen einer tiefen, fast normalen Flexion. Trotz dieser vermehrten Beweglichkeit soll der Polyethylenabrieb nicht größer sein als bei herkömmlichen Prothesen. Bezüglich des Designs soll es eine gewisse Robustheit geben mit einer Toleranz von kleineren Fehleinbauten in Fehlstellung.Das Besondere neben dem femoralen und tibialen Kondylendesign ist die anteriore Kammer. Im Gegensatz zur „Posterior Stabilizing Prothese“ haben wir hier eine anteriore Kammer, die eine anteriore Stabilisierung im Frühgangbild bis 20 Grad Flexion ermöglicht. Hierbei gibt es etwa eine Laxität von 1 –   2   mm und 6 Grad Hyperextensionsflexibilität.

Das spezielle Design ist vergleichbar mit dem normalen Knie, wo es in der Streckung keinen Überhang in den posterioren Femurkondylen gibt, welcher bei den konventionellen Oberflächenersätzen bis zu 8 mm beträgt während bei einem Bicruciate Stabilized System ein fast normaler Überhang (bis maximal 2 mm) besteht.

Weiter kommt es zum Einrasten des Zapfens in der Kammer bei etwa 50 – 60 Grad Flexion, wodurch ein normales Roll back der lateralen Femurkondyle in der Beugung eingeleitet wird. Durch den asymmetrischen Zapfen und die asymmetrische Kammer bleibt auch in weiterer Beugung und in der axialen Rotation der Mechanismus kongruent in Kontakt. Die mediale Oberfläche des Polyethylens ist konkav, während die laterale Oberfläche konvex ist und somit dem normalen Kniegelenk entspricht. Wir haben eine kleine anteriore Lippe und nach posterior hin wird das mediale Plateau flach. Im lateralen Plateau zeigt sich die konvexe Form, die keine geometrisches Hindernis für die Abrollbewegung ist. Im sagittalen Profil zeigt sich, dass sich die mediale und laterale Kondyle sowie die Trochleabezüglich ihrer Radien sehr nahe an die normale Anatomie anpassen. Die mediale Kondyle liegt weiter distal als die laterale Kondyle. Die Trochlea ist fast normal anatomisch und die laterale Kondylendicke ist geringer als medial. Zur Verbesserung der tiefen Flexion wird eine 15 Grad posteriore Resektion durchgeführt, welche die posteriore femorale Oberfläche um etwa 4 mm erweitert. Die Größe der Resektion des Knochens ähnelt der Polyethylendicke und der Implantatdicke, der „posteriore Offset“ wird beibehalten.

Aufgrund der 15 Grad posterioren Resektion kann die Prothese nicht wie herkömmlich gerade eingeschlagen werden, sondern muss aufgezogen werden, ähnlich einem Reifen, und ist damit sofort pressfit eingebracht. In den Abriebtests zeigte die anatomische Journey-Prothese im Vergleich zu einer konventionellen Chrom-Kobalt-Cruciate-Retaining-Prothese 75 % weniger Abrieb. Aufgrund der Oxinium-Beschichtung der Journey-Prothese zeigte sich im Vergleich zu einer nichtanatomischen Prothese (Genesis II) immerhin noch 32 % weniger Abrieb.

Die paradoxe Bewegung führt zu einer Abriebresistenz. Ferner wurde der Zapfen etwas anguliert, so dass ein „Patella- Zapfenimpingement nicht entstehen kann. Bei der Sensitivitätsmessung mit verschiedenen Einbauten von leichten Fehlstellungen zeigte sich, dass der Polyethylen-Inlay-Stress innerhalb von 10 % im Vergleich zum optimalen Alignment lag, welches einer sehr guten Sensitivität entspricht. Klinische Untersuchungen von Catani et al. konnten bei funktionellen Bewegungsabläufen wie vom Stuhl aufstehen und Treppen steigen, eine fast anatomische „normale“ Kinematik nachweisen.Die klinischen Ergebnisse zeigten einen Anstieg der Beweglichkeit von 107 Grad Beugung auf 136,5 Grad innerhalb von neun Monaten postoperativ. Ein konsequentes krankengymnastisches Übungsprogramm oder/und ein eigenständiges Trainingsprogramm sollte besonderen Wert auf die Bedeutung des iliotibialen Bandes und der Mobilisation im Hüftgelenk legen. Da die Prothese aufgrund ihres speziellen Designs wieder eine normale Beweglichkeit in der Radialstruktur und der Kinematik ermöglicht, ist sie bei stark vorgeschädigtem Weichteilapparat im arthrotischen Kniegelenk und bei Patienten mit geringem Mobilisationsanspruch nicht angezeigt. Ohne Frage kann die anatomische Prothese, optimal eingebaut bei einem engagierten Patienten, Bewegungen und eine Leistungsfähigkeit ermöglichen, die mit anderen Prothesen so nicht erreichbar ist.

Die Problematik der anatomischen Prothese ist, dass je näher man an die Anatomie/Kinematik herankommt, desto weniger werden Fehler in der Implantation verziehen. Daraus folgt, dass diese Prothese mit höchster Präzision eingebracht werden muss, um dann die funktionellen Höchstleistungen zu erreichen. Nach jetzt mehr als zehnjähriger Implantationserfahrung ist aus meiner Sicht die Journey BCS 2 Prothese eine Erfolgsgeschichte, die trotz aller Innovationen im Hinblick auf „custom-made Prothesen“ nach Computeranalyse und CAD Produktionstechnik in der Kinematik überlegen ist. In diesen Innovationen wird nur das „Chassis“ verändert, aber der „Motor“ bleibt „uralt“!

Von Hajo Thermann