Mai 2022 – Ausgabe 39
Der traumatische Bandscheibenvorfall
Schlüsselwörter: Traumatischer Bandscheibenvorfall, Vorschädigung, Begutachtung
Behandler von Wirbelsäulenleiden werden oft mit der Frage konfrontiert, ob die Genese des Wirbelsäulenschadens nicht traumatisch sein kann. So werden nicht selten Unfallereignisse von den Betroffenen als auslösendes Moment angegeben. Tatsächlich ist eine traumatische Ursache bei Bandscheibenschäden jedoch selten.
Die Notwendigkeit der Abgrenzung von bereits bestehenden degenerativen Veränderungen, die erheblichen Unterschiede in Anatomie und Biomechanik der verschiedenen Wirbelsäulenabschnitte, die Zunahme der Patientenansprüche und Variationen der Unfall- und Verletzungsmechanismen machen die Beurteilung traumatischer Bandscheibenvorfälle komplex und problematisch.
Im Folgenden soll ein Überblick gegeben werden über medizinische und gutachterliche Aspekte von traumatischen Bandscheibenschäden.
Die Mehrheit aller Wirbelsäulenbeschwerden in unserer Gesellschaft sind verschleißbedingten Veränderungen zu zuschreiben. Auch Bandscheibenvorfälle sind am häufigsten durch degenerative Prozesse verursacht. Eine traumatische Genese ist bei Bandscheibenschäden selten. So ließ sich in einer Untersuchung von 5.824 Bandscheibenvorfällen, die in der Zeit von 2000 bis 2014 an der Universität Marburg behandelt wurden, bei 51 Patienten eine traumatische Genese vermuten. Die sich ergebende Inzidenz von 0,87 %15 deckt sich mit anderen Autoren, die die Inzidenz des traumatischen Bandscheibenvorfalles mit ca. 1 % angeben 1,20.
Bereits in den 70erJahren wurden durch Lob Kriterien für die Anerkennung von traumatischen Bandscheibenvorfällen beschrieben (s. Tabelle 1). Dabei sollten Symptome wie Bein- und/oder Rückenschmerz unmittelbar an den Unfall anschließend auftreten12.
In den folgenden Jahren wurden mehrere Abhandlungen über die gutachterliche Bewertung des traumatischen Bandscheibenvorfalls, teilweise unter Kritik der Lob’schen Kriterien, publiziert 10,14.
Brinkmann untersuchte 1985 25 Proben menschlicher Bewegungssegmente der Lendenwirbelsäule unter axialen Belastungen, um eine interne Scherung des Anulus fibrosus zu simulieren, und kam zum Ergebnis, dass ein einzelnes traumatisches Ereignis nicht zu einem klinisch relevanten Bandscheibenvorfall führen kann2. Der Autor untersuchte später mit seiner Arbeitsgruppe weitere 20 Bewegungssegmente der Lendenwirbelsäule von Spendern im Alter zwischen 20 und 52 Jahren unter rein axialer Belastung sowie in Flexion und in Extension und konstatierte, dass sein Experiment die Hypothese stütze, dass dem Bandscheibenvorfall die Erzeugung von Radialrissen und Gewebefragmentierungen innerhalb der Bandscheibe vorausgehen muss und dass der Vorfall selbst ein spätes Ereignis im Verlauf eines langfristigen, degenerativen Prozesses zu sein scheint3.
Aufgrund der anatomischen Gegebenheiten mit erhöhter Flexibilität der subaxialen HWS bei rigider Brustwirbelsäule infolge des knöchernen Brustkorbes und relativ schwerem Kopf ist die Halswirbelsäule mit bis zu 88 % aller traumatisch bedingten Bandscheibenvorfälle am häufigsten betroffen15 (Abb. 1).
Die Kernspintomografie kann neben der Anamnese und klinischen Symptomatik in der Klärung des KausalitätsZusammenhangs von Trauma und traumatischem Bandscheibenvorfall zusätzliche Informationen liefern. So können typische Zeichen wie Begleitverletzungen der Wirbelsäule inkl. Wirbelkörperödeme und intraspinale Einblutungen festgestellt werden, voraus gesetzt, dass die MRTUntersuchung kurze Zeit nach dem Unfall stattfindet13. Nader et al. konnten 2018 mittels MRT Untersuchungen bei Patienten nach
Trauma in 72,7 % zusätzlich zum Bandscheibenvorfall Begleitverletzungen der Wirbelsäule nachweisen15. Die Arbeitsgruppe um Sander veröffentliche eine MRTKlassifikation zur traumatischen Bandscheibenläsion18 (s. Tabelle 2).
Einige Autoren sind der Meinung, dass die klinischen Beschwerden eines traumatischen Bandscheibenvorfalls zeitlich unmittelbar nach dem Unfall auftreten müssen4,9. Dagegen werden beschwerdefreie Intervalle von Stunden bis zu 8 Tagen von Tehaag und Frowein toleriert21. Demgegenüber argumentieren andere Autoren, dass das Auftreten von Wirbelsäulenbeschwerden in zeitlichem Bezug zu einem Unfallereignis weit verbreitet sein kann22.
Pathologische Aufarbeitungen können nur wenig zur Ursächlichkeit des traumatischen Bandscheibenvorfalls beitragen, da die Befunde in der Regel mehr oder weniger starke degenerative Veränderungen ohne zusätzliche spezifische Hinweise beschreiben11. Man kann histopathologische Stadien der Reparaturreaktion in Abhängigkeit des Zeitabstandes zwischen Unfallereignis und Operation erkennen. Der fehlende histologische Nachweis derartiger traumatischer Veränderungen schließt allerdings die traumatische Ätiologie nicht aus17. Einige Autoren sehen keine histologischen Unterschiede bei traumatischen und degenerativen Bandscheibenvorfällen5,15.
Laut Bürkle de la Camp kommt es erst zu einer knöchernen Verletzung der Wirbelkörper, bevor eine Zerreißung der Bänder der Wirbelsäule manifest wird. Diese ist bedingt durch die hohe mechanische Widerstandsfähigkeit der ligamentären Strukturen der Wirbelsäule4.
Vorschädigung
Als Faustformel gilt: Je jünger der Patient ist, desto geringer ist das Ausmaß der Vorschädigung und umso schwerer muss jedoch auch das Trauma sein, um einen Bandscheibenvorfall verursachen zu können6. Monosegmentale frische Veränderungen mit Sequestrierung (Austritt von Material aus der Bandscheibe unter vollständiger räumlicher Ablösung des selben von der Bandscheibe selbst) und Bandscheibenzerreißungen sprechen eher für einen kausalen Zusammenhang als mehrsegmentale degenerative Veränderungen6. Eine unauffällige klinische Vorgeschichte schließt degenerative Veränderungen nicht aus19. Wiesel et al. wiesen bei computertomografischen Untersuchungen der Lendenwirbelsäule an beschwerdefreien Probanden Band-scheibenvorfälle bei 19,5 % der unter 40Jährigen und bei 26,9 % bei über 40Jährigen nach23. Laut Junghans gibt es ab dem 30. Lebensjahr keine Wirbelsäule ohne veränderte Bandscheiben8. Prestar kommt sogar zu der Aussage, dass ein traumatischer Bandscheibenvorfall, aufgrund des anzunehmenden Vorschadens bei Erwachsenen, immer nur partiell als Unfallfolge anzusehen ist17. Laut Schwarze heilen die weichteiligen Unfallfolgen, wie z. B. Überdehnungen muskulärer oder ligamentärer Strukturen oder Prellungen, üblicherweise binnen 4 bis 6 Wochen folgenlos ab. Dagegen weisen die traumatischen Bandscheibenrupturen diese sogenannte Decrescendo Kinetik nicht auf und der Schaden persistiert19. So kamen Frowein und Tehaag bereits 1977 zur Schlussfolgerung, dass die akute, posttraumatische, klinische Verschlimmerung bei einer Vorschädigung nicht richtungsgebend, sondern fast immer nur vorübergehend für ein Jahr anzunehmen ist7.
Die Kernspintomografie kann durch Beurteilung des Ausmaßes der degenerativen Veränderungen, als Zeichen eines Vorschadens, z. B. anhand der PfirrmannKlassifikation16 (s. Tabelle 3) in der Beantwortung der Frage zum Anteil der Vorschädigung hilfreich sein.
Rechtliche Aspekte
Die versicherungsrechtlichen Fragen im Zivil- und Sozialrecht werden unter Berücksichtigung der verschiedenen Versicherungsbedingungen der privaten und der gesetzlichen Unfallversicherungen unterschiedlich beurteilt. Schon die Definition des Unfallbegriffs unterscheidet sich in beiden Kategorien und es resultieren differierende Einschränkungen der Leistungspflicht in der privaten und gesetzlichen Unfallversicherung.
Der Unfall wird in der gesetzlichen Unfallversicherung des SGB VII, § 8 wie folgt definiert: „Arbeitsunfälle sind Unfälle an Versicherten in Folge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.“
Die Definition des Unfallbegriffes in der privaten Unfallversicherung lautet gemäß der Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB): „Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.“
Die AUB schränken die Leistungspflicht des Versicherers in zwei wesentlichen Punkten ein6:
- Für die Anerkennung eines kausalen Zusammenhanges zwischen Unfall und Bandscheibenvorfall ist zu fordern, dass das angeschuldigte Ereignis die Kriterien der Unfalldefinition vollständig erfüllt.
- Der Unfall muss die überwiegende Ursache des Schadens (des Bandscheibenvorfalls) sein.
Zusammenfassung
Trotz der immensen Fortschritte in der Bildgebung, vor allem der Kernspintomografie, mit der Möglichkeit des Ausschlusses bzw. Nachweises von Zeichen, die auf eine traumatische Genese des Bandscheibenvorfalls hindeuten sowie einem besseren Verständnis der Biomechanik, bleibt die gutachterliche Beurteilung eines Zusammenhangs zwischen Trauma und Bandscheibenvorfall eine Herausforderung. Bei der Beurteilung sollten medizinische und versicherungsrechtliche Aspekte berücksichtigt und für die Anerkennung eines kausalen Zusammenhangs zwischen Unfall- und Bandscheibenvorfall angewendet werden.
Bedingungen für die Anerkennung eines traumatischen Bandscheibenvorfalls sind:
- ein traumatischer Bandscheibenvorfall setzt ein hochenergetisches Trauma voraus mit einem passenden Unfallmechanismus,
- ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Unfall und der durch den Befund erklärten klinischen Symptomatik sollte gesichert werden (mit einem DecrescendoVerlauf),
- der Betroffene sollte unmittelbar vor dem Unfall beschwerdefrei gewesen sein,
- es darf keine überwiegende degenerative Vorschädigung der Wirbelsäule bestehen und
- die radiologische Bildgebung sichert einen Hinweis eines hoch energetischen Traumas, z. B. Fraktur der benachbarten Wirbelkörper oder Einblutung ins Bandscheibenfach bzw. in den Spinalkanal.