Mai 2024 – Ausgabe 43
Angeborene Fehlbildungen der Wirbelsäule – Teil 2
Schlüsselwörter: Kongenitale Skoliose, Spondylolisthesis, Formationsstörungen der Wirbelsäule, Segmentationsstörungen der Wirbelsäule, Halbwirbel
Nachdem im ersten Teil über angeborene Fehlbildungen im Bereich der Wirbelsäule der Fokus auf Pathologien aus dem neurochirurgischen Fachgebiet mit vornehmlich die neuralen Strukturen bzw. Hirnhäute betreffenden Veränderungen lag, sollen im vorliegenden Beitrag eher Fehlbildungen behandelt werden, die dem orthopädisch-wirbelsäulenchirurgischen Bereich zuzuordnen sind.
Die Inzidenz kongenitaler Wirbelfehlanlagen wird auf ca. 1:1000 geschätzt. Ganz prinzipiell lassen sie sich, wie in Teil 1 erwähnt, in Formationsstörungen und Segmentationsstörungen sowie kombinierte Formen einteilen (Abb. 1). Die aus den Formationsstörungen im Zuge des Wachstums resultierenden Deformitäten lassen sich ableiten aus der weiteren Unterteilung der Fehlbildung, je nachdem, ob beide Pedikel angelegt sind oder nicht (Abb. 2).
Auch bei genauerer Betrachtung der Segmentationsstörungen ist es relevant, ob diese symmetrisch oder einseitig ausgebildet sind (Abb. 3). Insofern ist es auch verständlich, dass kombinierte Anomalien das größte Potenzial für die (schnellere) Ausbildung einer starken Deformität in sich bergen (Abb. 4).
Bei der Behandlung von Deformitäten infolge von Wirbelfehlbildungen (kongenitalen Skoliosen) ist es wichtig, frühzeitig das Potenzial der Progredienz der Deformität mit zunehmendem Wachstum abschätzen zu können, da Fehlbildungen mit starker Neigung zur zügigen Verkrümmung von einer frühzeitigen operativen Korrektur profitieren. So sollte zum Beispiel eine Halbwirbelresektion, vor allem bei vollsegmentierten Halbwirbeln, so früh wie möglich durchgeführt werden, bevor eine sekundäre rigide Krümmung entsteht, die eine längerstreckige Korrekturspondylodese erfordern würde. So ist es möglich, über ein frühzeitiges, rein dorsales Vorgehen mit kurzer Instrumentation die Entstehung einer schwergradigen lokalen Deformität sowie nicht spontan korrigierender sekundärer Krümmungen zu vermeiden (Abb. 5). Erfreulicherweise behindert eine Instrumentation selbst im Kleinkindesalter nicht das weitere Wachstum des Spinalkanals, sodass Stenosen im versorgten Bereich in der Regel nicht beobachtet werden.
Im Bereich des kraniozervikalen Übergangs finden sich Störungen der Formation oder Segmentation oft in den zentralen Wirbelstrukturen. So ist das Os odontoideum Folge der ausbleibenden Fusion des apikalen Knochenkernes des Dens axis. In der Praxis ist die Verwechslung mit einer Densfraktur Typ I nach Andersson und D’Alonzo leider weiterhin nicht selten. Problematisch werden kann ein Os odontoideum im Falle einer Instabilität mit der Gefahr einer Rückenmarksschädigung. In diesen Fällen sind eine operative Stabilisierung und Spondylodese notwendig (Abb. 6).
Das Auftreten von mehrfachen Segmentationsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule muss an das Vorliegen eines Klippel-Feil-Syndroms denken lassen. Hierbei kommt es in der 3. bis 8. Woche der Embryonalentwicklung zu einer Störung der Segmentierung der zervikalen Somiten. Die klassische Symptom-Trias „tiefer Nackenhaaransatz – kurzer Hals – eingeschränkte HWS-Beweglichkeit“ ist bei 33 bis maximal 75 Prozent der Betroffenen vorhanden und daher nicht immer wegweisend. In ca. 60 Prozent sind weitere Wirbelsäulenfehlbildungen mit resultierenden Skoliosen und Kyphosen anzutreffen. Eine operative Therapie kann bei Instabilitäten oder Neurokompressionen erforderlich werden. Eine Segmentationsstörung im kraniozervikalen Bereich kann sich in Form einer Atlasassimilation äußern (Abb. 7).
Am anderen Ende der Wirbelsäule stellt die Spondylolisthesis eine weitere typische „angeborene“ Fehlbildung der Wirbelsäule dar. Obwohl die Ätiologie derselben bis heute nicht vollständig geklärt ist, handelt es sich um eine relativ häufige „Fehlbildung“ der Wirbelsäule, die ca. sechs Prozent der Menschen nach Wachstumsabschluss aufweisen. Interessant ist die Tatsache, dass eine Spondylolisthesis nie bei Kindern beobachtet wird, die nicht laufen lernen. Ein Umstand, der auf den aufrechten Gang / Stand des Menschen als wesentlichen Faktor in der Entstehung hindeutet. Hinweisend für einen ebenso relevanten Einfluss von Entwicklungsstörungen an der Entstehung der Spondylolisthesis ist die gehäufte Koinzidenz von Bogenschlussstörungen im Lumbosakralbereich (Spina bifida occulta). In 80 Prozent der Fälle ist der fünfte Lendenwirbel betroffen, 20 Prozent entfallen auf LWK 4. Es wurde eine Vielzahl an Klassifikationssystemen für die Spondylolisthesis publiziert, am verbreitetsten sind diejenigen nach Wiltse, Newman und Macnab für die verschiedenen Typen sowie nach Meyerding für den Grad des Gleitens (Slip).
Bei Betrachtung der „angeborenen“ Formen der Spondylolisthesis reicht die simplere Einteilung in die Gruppe der Isthmus-Defekt-Spondylolisthesen sowie der Isthmus-Dysplasie-Spondylolisthesen (Abb. 8). Erstere sind mit hyperextendierenden Sportarten korreliert und weisen selten eine Progredienz zum high-grade Typ (mehr als 50 % Gleitgrad) auf. Die Isthmus-Dysplasie-Spondylolisthesis kann demgegenüber auch höhere Gleitgrade (high-grade, > 50 %) aufweisen und bis zur Spondyloptose voranschreiten. Weiterhin ist der dysplastische Typ oft mit adaptiven Veränderungen des Knochenwachstums, wie einem elongierten Isthmus und einem sakralen Dom, assoziiert. Das Progredienzrisiko der dysplastischen Form ist deutlich höher gegenüber der Isthmus-Defekt-Form. Insofern sollten Kinder mit dysplastischen Spondylolisthesen engmaschig überwacht und eher frühzeitig operativ versorgt werden, bevor der zunehmende Gleitgrad einen höheren operativen Aufwand wie die (temporäre) zusätzliche Stabilisierung bis LWK 4 und doppelte Verankerung sakral / iliakral erfordert oder gar eine Operation nach Gaines mit vollständiger Vertebrektomie von LWK 5 im Falle einer Spondyloptose notwendig wird. Auch steigt mit zunehmendem Gleitgrad die Wahrscheinlichkeit radikulärer Symptome infolge neuroforaminaler Kompression der L5-Wurzeln. Wenn rechtzeitig chirurgisch therapiert wird, gelingt es oft, mit der monosegmentalen Repositions-Spondylodese von dorsal gute Ergebnisse zu erzielen (Abb. 9).