Oktober 2021 – Ausgabe 38
Aktueller Stand des Latissimus dorsi-Muskeltransfers an der Schulter
Keywords: Latissimus dorsi-Muskeltransfer, inverse Schulterprothese, arthroskopisches Débridement, superiore Kapselrekonstruktion, Lower Trapezius-Transfer, Außenrotations-Lag sign
Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre galt der Latissimus dorsi- Muskeltransfer (LDT) noch als ideales Reserveverfahren zur Behandlung von konventionell irreparablen postero-superioren Rotatorenmanschetten-Massenrupturen. Heute, gut 20 Jahre später, hat sich sein Indikationsspektrum deutlich reduziert und die Operationstechniken wurden obendrein modifiziert. Das steht unmittelbar in Zusammenhang mit konkurrierenden OP-Verfahren.
Insbesondere beim älteren Menschen über 65 Jahre hat die inverse Schulterprothese den LDT komplett abgelöst, wenn es um die Wiederherstellung der aktiven Schulterfunktion geht. Nur in Ausnahmefällen, wenn ein isolierter kompletter Außenrotationsausfall durch zusätzliche Insuffizienz des M. teres minor vorliegt, wird der LDT mit der Implantation der inversen Prothese kombiniert.
Oft reicht beim betagten inaktiven Patienten, bei dem die Schmerzen im Vordergrund stehen, ein alleiniges arthroskopisches Débridement mit Durchtrennung der langen Bizepssehne aus, um eine schmerzfreie Schulterfunktion wiederherzustellen, allerdings mit der Einschränkung, dass damit kein Kraftgewinn erwartet werden kann. Bei gleichzeitigem Anspruch auf Rückgewinnung der Außenrotation hat sich eine alleinige arthroskopische Rekonstruktion des M. infraspinatus als funktionell ausreichend bewährt, ohne den M. supraspinatus zu versorgen.
Die superiore Kapsel Rekonstruktion
Als weiteres konkurrierendes Verfahren zum LDT kommt beim erwerbstätigen Patienten die superiore Kapselrekonstruktion hinzu. Im Fall eines kombinierten Defektes der Supra- und Infraspinatussehne lässt sich in den meisten Fällen der M. infraspinatus als bedeutender Außenrotator arthroskopisch rekonstruieren.
Der verbleibende, nicht rekonstruierbare Defekt des M. supraspinatus hinterlässt eine Kraftlücke, die zum Hochstand des Humeruskopfes führt, was ein mechanisches Abduktionshindernis darstellt. Durch Einnähen einer zellulären Biomatrix – bzw. der entnommenen und gedoppelten langen Bizepssehne – zwischen oberem Glenoidrand und dem „footprint“ am Humeruskopf lässt sich dieser Kapsel-Sehnendefekt verschließen, was
zu einer mechanischen Zentrierung des Humeruskopfes führt. Die wiederhergestellte Zentrierung des Oberarmkopfes erlaubt es den Innen- und Außenrotatoren, wieder ein dynamisches Gegengewicht gegen den Zug des Deltamuskels zurückzugewinnen.
Der „Lower Trapezius-Transfer
Der „Lower Trapezius-Transfer“ nach Elhassan ist ein neues innovatives Konkurrenzverfahren zum LDT. Hierbeiwird der untere Anteil des M. trapezius vom medialen Scapularand abgelöst, mit einem allogenen Achillessehneninterponat verlängert und an den Hinterrand des Tuberculum majus transfixiert. Der Vorteil bei diesem Verfahren wird in dem gleichen Zugvektor wie beim M. infras- • pinatus und in dem erheblichen Kraftpo- tenzial gesehen.
Wenn wir uns also heute fragen, was die verbliebenen Indikationen zum LDT sind, so beschränkt sich das Spektrum • auf den isolierten Außenrotationsverlust in der Horizontalebene. Der Patient weist ein Außenrotations-„Lag sign“ auf, d. h., er kann den nach außen gedrehten Unterarm nicht in dieser Position halten. Typisch ist auch das sogenannte • Hornblower-Zeichen: Bei 90° abduziertem Oberarm gelingt es ihm nicht, den Unterarm nach außen zu rotieren.
Die Indikation zum LDT liegt vor:
- bei isoliertem, nicht rekonstruierbarem Defekt des M. supra- und infraspinatus mit begleitender fettiger Muskelatrophie
- bei erhaltenem M. teres minor
- bei erhaltenem M. subscapularis
- bei Patienten im jüngeren und mittleren Lebensalter
- mit einem akromio-humeralen Abstand von > 5 mm im Standard a.p. Röntgenbild
- bei fehlender Arthroopathie
Operative Verahren des Latissimus Dorsi-Transfers
Als operativers Verfahren unterscheiden wir:
- die originale Technik nach Gerber [1] über einen doppelten Zugang dorsal- axillär und supra-akromial mit Transposition der Latissimus dorsi-Sehne auf den footprint des M. supraspinatus proximal des Tuberculum majus
- die Technik nach Habermeyer / Herzberg über einen isolierten dorsalen-axillären Zugang mit Trans- position des M. latissimus dorsi auf den footprint des M. infraspinatus dorsal des Tuberculum majus
- die Technik nach Boileau über einen vorderen deltopektoralen Zugang mit Transposition von Latissi- mus dorsi- und Teres major-Sehne auf die Außenseite der proximalen Humerusdiaphyse
- die Technik nach L’Episcopo mit Versetzung von M. latissimus dorsi und M. teres major auf die Außenseite der proximalen Humerusdiaphyse über einen dorsalen axillären Zugang
Biomechanisch unterscheiden sich der Verfahren ebenfalls:
- Der LDT nach Gerber ist im Wesentlichen ein Humeruskopfdepressor und weniger ein Außenrotator.
- Der LDT nach Habermeyer/Herzberg verfügt über den besten Kraft-Moment-Arm für die Außenrotation und ist ein schwacher Humeruskopfdepressor.
Der kombinierte Transfer von Latissimus dorsi und Teres major verfügt über den stärksten Kraftvektor für die Außenrotation aufgrund des größeren Muskelvolumens, hat aber keine Depressorfunktion.
Somit kann man mit den verschiedenen Techniken gezielt die gewünschte Funktion mit der Auswahl des Operationsverfahrens bestimmen.
Von Gerber liegen publizierte Zehnjahresergebnisse und von meiner Arbeitsgruppe Sechsjahresergebnisse vor. Gemeinsam konnte gezeigt werden, dass sowohl die Flexion und Abduktion als auch der Constant Score signifikant verbessert werden konnten. Die Außenrotation wurde hingegen nur wenig verbessert. Im EMG fanden sich Aktivitätszeichen im M. latissimus dorsi für die Außen-und Innenrotation.
Der akromiohumerale Abstand als Zeichen für die Zentrierung des Humeruskopfes konnte nicht verbessert und die Entwicklung einer Defektarthropathie durch den LDT nicht gestoppt werden. Beim jüngeren aktiven Patienten mit isoliertem Außenrotationsdefizit kann der LDT jedoch die Versorgung mit einer inversen Prothese deutlich herauszögern.