Oktober 2025 – Ausgabe 46
Transplantatwahl für die vordere Kreuzbandplastik – eine patientenindividuelle Entscheidung
Dr. med. Steffen Thier
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Die Ersatzplastik des vorderen Kreuzbandes, die sogenannte VKB-Plastik, ist die am häufigsten durchgeführte Bandrekonstruktion des Kniegelenkes mit einer Inzidenz von ca. 50.000/Jahr in Deutschland. Das Ergebnis nach einer solchen Operation wird meist anhand der Kniestabilität, der subjektiven Zufriedenheit des Patienten und der Wiederkehr zum ursprünglichen Sport gemessen. Tatsächlich unterliegt das Operationsergebnis zahlreichen Einflussfaktoren, und die Entscheidung zur Operation sollte patientenindividuell getroffen werden. Der Transplantatwahl kommt in diesem Zusammenhang eine hohe Bedeutung zu.
Die Wahl des Transplantates für eine Ersatzplastik des vorderen Kreuzbandes orientiert sich insbesondere an den individuellen Patientenanforderungen sowie an möglichen Begleitverletzungen des Kniegelenkes. Die Transplantateigenschaften und die Entnahmemorbidität der körpereigenen Sehne müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Die Kreuzbandchirurgie blickt in diesem Zusammenhang auf eine mehr als hundertjährige Entwicklung zurück. Hierbei wurden viele Wege beschritten, um das ideale Transplantat zu finden. Für die primäre VKB-Plastik steht heute eine Vielzahl von Transplantaten zur Verfügung, deren individuellen Eigenschaften teilweise deutlich variieren. Der Operateur sollte in der Lage sein, eine grundlegende Frage zu beantworten:
„Welches Transplantat ist am besten geeignet für die individuellen Bedürfnisse des Patienten?“
Um das bestmögliche postoperative Ergebnis erreichen zu können, muss das Transplantat bestimmte Anforderungen erfüllen:
- Die Entnahmemorbidität sollte gering sein, und die damit einhergehenden Funktionseinschränkungen sollten reversibel sein.
- Die biomechanischen Eigenschaften des Transplantates sollten mit jenen des ursprünglichen vorderen Kreuzbandes vergleichbar sein.
- Es sollte einfach zu fixieren sein sowie schnell einheilen und die Ligamentisation (Ablauf der stufenweisen Einheilung) zeitgerecht durchlaufen, um eine frühfunktionelle Nachbehandlung zu ermöglichen.
- Es sollte in der Lage sein, eine langfristige Kniestabilität zu gewährleisten, die mit der ursprünglichen vergleichbar ist, um sekundären Knorpel- oder Meniskusschäden vorzubeugen.
Grundsätzlich hat sich die Verwendung autologer Transplantate durchgesetzt. Die Hamstring- bzw. Beugesehnen des Pes anserinus (M. semitendinosus / M. gracilis) werden aktuell am häufigsten zur vorderen Kreuzbandrekonstruktion verwendet und haben die Patellasehne als Spitzenreiter abgelöst. Aufgrund technischer Weiterentwicklungen der Fixationsmethoden erfreut sich die Quadrizepssehne in den letzten Jahren einer Renaissance. Keines der oben genannten Sehnentransplantate kann jedoch allen Anforderungen gerecht werden, somit bleibt die Transplantatwahl ein Kompromiss.
Hamstringsehnen (Semitendinosus/Gracilissehne)
Im Laufe der Jahre haben sich die Hamstringsehnen wegen ihrer einfachen Entnahme, geringen Entnahmemorbidität, einfachen Fixation und guten Stabilität zu dem am häufigsten verwendeten Transplantat in der vorderen Kreuzbandchirurgie entwickelt. Abhängig von der Länge und dem Durchmesser der Semitendinosussehne muss ggf. zusätzlich die Gracilissehne entnommen werden. Von einer routinemäßigen Entnahme der Gracilissehne sollte aufgrund einer postoperativ eingeschränkten Beuge- und Innenrotationsfähigkeit des Kniegelenkes abgesehen werden. Ein Mindesttransplantatdurchmesser von 8 mm sollte bei einem vierfach gebündelten Transplantat erreicht werden, da die Rerupturrate bei geringeren Durchmessern höher zu sein scheint.
Ein Nachteil der Entnahme der Hamstringsehnen scheint jedoch die direkte Schwächung der Beinbeugemuskulatur und damit der Agonisten des vorderen Kreuzbandes zu sein. Vereinfacht gesprochen zieht der Beinbeuger den Unterschenkel nach hinten und unterstützt somit das vordere Kreuzband. Dieser Effekt kann jedoch durch ein angepasstes Rehabilitationsschema weitestgehend kompensiert werden. Zudem spannt sich der Pes anserinus (Ansatzkomplex der Beinbeugemuskeln an der Knieinnenseite) in strecknaher Stellung wie eine Hängematte auf und stabilisiert die Innenseite des Kniegelenkes zusätzlich. Daher sollte bei einer Begleitverletzung des Innenbandes, insbesondere in Kombination mit einer valgischen Beinachse (X-Beinachse), auf die Entnahme der Hamstringsehnen verzichtet werden. Die Einheilung des sehnigen Anteils in den Knochen nach Implantation erfolgt im Rahmen eines dreiphasigen Prozesses, der sogenannten Ligamentisation:
Phase 1: Teilnekrose und Hypozellularität des Transplantatgewebes
Phase 2: Proliferation von Fibroblasten / intensive Revaskularisierung
Phase 3: Restrukturierung des Transplantatgewebes
Zwischen der sechsten bis achten postoperativen Woche scheint das Transplantat am geringsten belastbar zu sein. Tierexperimentelle Studien zeigten zudem, dass die Belastbarkeit des Transplantates nach Abschluss der Ligamentisation bei etwa 50 bis 60 % des Ausgangswertes zu liegen scheint.
Quadrizepssehne
In den letzten Jahren kam es zu einer Renaissance der Quadrizepssehne als Transplantat für die VKB-Ersatzplastik. Das Transplantat wird aus dem mittleren Drittel der Quadrizepssehne präpariert und kann abhängig von der Indikation mit oder ohne Knochenblock aus der Kniescheibe entnommen werden. Breite, Tiefe und Länge des Transplantates können durch den Operateur variiert werden. Einzig bei kleinen, muskelschwachen Patienten kann die Sehne zu dünn oder zu kurz sein. Durch die Möglichkeit der Entnahme mit Knochenblock eignet sich die Sehne sowohl für die Primär- als auch für die Revisions-VKB-Plastik.
Grundsätzlich ist die Länge des Transplantates ebenfalls für eine HKB-Plastik (hinteres Kreuzband) ausreichend. Aus Registerdaten und Vergleichsstudien ist bekannt, dass die Verwendung der Quadrizepssehne in geübten Händen zu vergleichbaren Ergebnissen bei Stabilität und Patientenzufriedenheit im Vergleich zu den etablierten Transplantaten führt.
Aus eigener Erfahrung scheint die Entnahme mit Knochenblock zu mehr postoperativen Schmerzen zu führen. Zudem zeigen einzelne Patienten therapierefraktäre Probleme bei der adäquaten Ansteuerung des Quadrizepses. Im Vergleich zur Patellasehne scheint der Kraftverlust des Quadrizepses geringer und die Wahrscheinlichkeit eines vorderen Knieschmerzsyndroms mit ca. 3 % deutlich niedriger zu sein. Ähnlich wie bei der Patellasehne kann die Entnahme mit Knochenblock zu einer Patellafraktur führen. Dies sollte bei Sportarten mit hohen Quadrizepsbelastungen und/oder mit häufigen Stürzen auf das Knie berücksichtigt werden. Vorteile des Knochenblocks liegen in einer implantatfreien Verankerung und schnellen Einheilung.
Patellasehne
Das Patellasehnentransplantat wird generell aus dem mittleren Drittel der Sehne gewonnen. Üblicherweise wird das Transplantat mit zwei Knochenblöcken entnommen: einem Knochenblock aus der Tuberositas tibiae (Unterschenkelansatz) und einem aus der Patella. Daher wird das Transplantat auch als BPTB bezeichnet (Bone-Patella Tendon-Bone). Die Breite kann variiert werden, die Länge hingegen nicht. Diese liegt meist zwischen 40 und 60 mm. Die natürliche Sehneninsertion bleibt durch den Knochenblock erhalten, und das Transplantat heilt bei Implantation knöchern ein. Dies ist ein Vorteil im Vergleich zu den rein sehnigen Transplantaten wie den Hamstringsehnen, die erst über die Ausbildung von sogenannten Sharpey‘schen Fasern (speziellen Fasern zwischen Knochen und Sehnenoberfläche) im Knochen einheilen.
Es wird von einer höheren Primärstabilität des Transplantates ausgegangen. Schlussendlich ist dies jedoch noch nicht ausreichend erforscht. In einer tierexperimentellen Studie zeigte sich nach drei Wochen eine höhere Stabilität im Vergleich zu einem rein sehnigen Transplantat. Nach sechs und zwölf Wochen ließ sich dieser Effekt jedoch nicht mehr nachweisen. Eine suffiziente Einheilung des Knochenblocks nach drei Wochen erscheint fraglich, sodass dieser Effekt auch auf eine Verklemmung des Knochenblocks im Bohrkanal zurückzuführen sein könnte. Im Revisionsfall bieten die Knochenblöcke eine Möglichkeit, die vorbestehenden Bohrkanäle zu füllen, um eine zweizeitige Revision zu umgehen. Der Grund, warum die Patellasehne in den letzten Jahren bei der primären VKB-Ersatzplastik an Popularität verloren hat, ist die Entnahmemorbidität, die teilweise zu einem therapierefraktären vorderen Knieschmerz führen kann. Vernarbungen der Sehne bzw. des Hoffa-Fettkörpers hinter der Sehne führen zu einer Verkürzung der Sehne mit resultierender, nur schwer therapierbarer patellofemoraler Dysfunktion.
Fascia lata und Peroneus-longus-Sehne
Das Fascia-lata-Transplantat wird aus dem Tractus iliotibialis in Form eines Streifens entnommen. Insbesondere im skandinavischen Raum wurde es in den 1980ern verwendet. Durchgesetzt hat sich das Transplantat jedoch nicht. Ein Grund hierfür lässt sich in der Literatur jedoch nicht finden. Die Verwendung der Peroneus-longus-Sehne ist in der Literatur nur vereinzelt beschrieben. Es handelt sich hierbei um eine Sehne aus dem Unterschenkel. Sie kann kosmetisch günstig entnommen werden und wird ähnlich wie die Hamstringsehnen präpariert. Vergleichsstudien liegen diesbezüglich bis dato jedoch nicht vor.
Allogene Transplantate (Spendersehnen)
Aufgrund der restriktiven europäischen Gesetzgebung und der strengen Vorgaben in Deutschland in Bezug auf spezielle Aufbereitungs- und Sterilisierungsverfahren spielen die allogenen Transplantate in Deutschland eine eher untergeordnete Rolle. Das Arzneimittelgesetz regelt in diesem Falle die Zu- und Aufbereitung, Konservierung und Lagerung der Transplantate. Die fachlichen Anforderungen durch das Paul-Ehrlich-Institut fordern diesbezüglich ein Inaktivierungsverfahren der Spendersehnen (z. B. Gamma-Bestrahlung), das zu einer reduzierten Belastbarkeit und damit einhergehend zu einer erhöhten Rerupturrate der allogenen Transplantate führt.
Fazit
Grundsätzlich stehen für die VKB-Ersatzplastik mehrere Sehnentransplantate mit verschiedenen Vor- und Nachteilen zur Verfügung. Die Auswahl des Transplantates sollte von den individuellen Bedürfnissen des Patienten abhängig gemacht werden. Ein spezialisierter Kniechirurg sollte daher in der Lage sein, die vordere Kreuzbandplastik mit unterschiedlichen Sehnentransplantaten durchführen zu können.