Mai 2025 – Ausgabe 45
Meine prägendsten Erfahrungen in der Schulterchirurgie der letzten 40 Jahre
Prof. Dr. med. Peter Habermeyer
Schlüsselwörter: Schulterchirurgie, Arthroskopie, Rotatorenmanschette, Schulterprothetik
Prägendste Erfahrungen können persönlicher Art sein, wenn sie sich z. B. auf einen Lehrmeister begründen. Sie macht man aber auch, wenn man selbst an der Entwicklung von neuen Verfahren beteiligt war. Oder sie sind prägend, wenn sie sich auf eine disruptive Entwicklung zurückführen lassen. Disruptive Technologien unterbrechen die Erfolgsserie etablierter Technologien und Verfahren und verdrängen oder ersetzen diese. Darüber möchte ich hier berichten.
In Deutschland gab es keine spezielle Schulterchirurgie bis zur Mitte der 1980er Jahre. Selbstverständlich hat man die Oberarmfrakturen operativ versorgt, aber das war meist Sache der Allgemeinchirurgie. Wenige Orthopäden wie Achim Reichelt in Freiburg, Hans Jürgen Refior in Hannover und Reinhard Kölbel in Hamburg nähten Rotatorenmanschettenrupturen. Die häufigsten Eingriffe waren die offenen Verfahren bei der Schulterluxation in der Technik nach Max Lange aus den 1950er Jahren mit einem Knochenspan. Die Schulter stand lange im Schatten der großen Gelenke Hüfte und Knie. Von dort kamen dann Mitte der 1980er Jahre die Innovationen auch für den Schulterbereich.
Zuerst die Arthroskopie
Was am Knie einfach war, das war an der Schulter kompliziert. Das begann schon damit, dass man an der Schulter keine Blutsperre anlegen konnte, mit der Folge, dass man außer Blut anfangs nichts sah. Wie sollte man die Betroffenen lagern? Flach lagern wie die Kniepatientinnen und -patienten ging nicht, dafür Seitenlage. Aber dann musste das Chirurgenteam seine anatomische Orientierung um 90° drehen und um 90° nach hinten kippen! Kurzum: Die Orientierung war schnell verloren. Die Industrie erkannte sehr schnell, dass es hier Innovationen brauchte, und so kamen Druckpumpen, Beach-Chair-Lagerung, Fadenanker, Spezialfäden und eine Menge Spezialgeräte auf den Markt, die das geschlossene Operieren an der Schulter ermöglichten.
Waren es anfangs nur einfache Dekompressionen mit Abfräsen von Knochenkanten, so haben wir (Habermeyer und Ernst Wiedemann) schon 1992 die ersten arthroskopischen Nähte der Rotatorenmanschette durchgeführt. Es dauerte aber noch bis in die 2000er Jahre, bis sich die arthroskopische Naht allgemein durchsetzte.
Wesentlich flotter verlief die Entwicklung bei der Schulterluxation. Es war einfach verlockend, ein abgerissenes Labrum glenoidale wieder anzunähen bzw. zu tackern. Damit war es aber nicht getan. Es dauerte eine Weile, bis uns klar war, dass andere Faktoren eine viel größere Bedeutung hatten. So lernten wir, dass die glenohumeralen Bänder viel wichtiger waren als das Labrum, dass knöcherne Pfannen- und Humeruskopfdefekte die Ergebnisse der arthroskopischen Stabilisierung desavouierten. So kam es zu arthroskopischen Verfahren, die die erfolgreichen offenen Techniken kopierten wie den Korakoidtransfer oder das Knochenblockverfahren. Heute werden bis auf die prothetische Versorgung weitgehend sämtliche Verfahren arthroskopisch durchgeführt, von der Frakturversorgung einmal abgesehen. Letztlich stellt sich heute die Arthroskopie des Schultergelenks als evolutionäre Entwicklung dar, die sich kontinuierlich, aber nicht disruptiv vollzogen hat.
Schulterprothetik: eine disruptive Entwicklung
Die Schulterprothetik hingegen entwickelte sich disruptiv, weil sich die Prothetik, ursprünglich von der Hüfte kommend, nicht einfach auf die Schulter übertragen ließ. Schulter- und Hüftgelenk sind beides Kugelgelenke, aber mit zwei bedeutenden Unterschieden:
- Im Gegensatz zum Hüftgelenk mit Kopf und Hals gibt es an der Schulter keinen Halsbereich, der Oberarmkopf setzt direkt – ohne Hals – am Oberarmknochen an. Und das macht den einen Unterschied.
- Der Hüftkopf ruht in einer tiefen Hüftpfanne, während die Schulterpfanne viermal kleiner, d. h. viel flacher ist. Damit kann der Arm um annähernd 360° bewegt werden, was eine umschließende Muskulatur erfordert, damit die Schulter nicht luxiert.
Die ersten „anatomischen“ Schulterprothesen von Anfang der 1970er Jahre waren nur leicht modifizierte Hüftprothesen, bestehend aus einem Schaft mit festem Kopfteil in drei Größen. Damit das irgendwie passte, wurde am Oberarmschaft der Markkanal so weit aufgefräst, bis der Prothesenkopf oben auf dem Humerus aufsaß, und in dieser Position wurde der Schaft dann einzementiert. Die Prothese wurde dem Oberarmschaft angepasst, aber der Kopf korrespondierte nur per Zufall genau mit der Gelenkpfanne. Dementsprechend schlecht waren die Operationsergebnisse. Mitte der 1980er Jahre hatten die Schulterprothesen in Deutschland einen so schlechten Ruf, dass nur wenige Implantate verbaut wurden. Ende der 1980er Jahre kamen aus den USA modulare Schaftprothesen auf den Markt, bei denen man verschiedene Kopfgrößen aufstecken konnte, um die Anatomie besser zu berücksichtigen. Aber an der grundlegend falschen Geometrie der Prothesen änderte das auch nichts.
Erst die anatomische Arbeit von Gilles Walch und Pascal Boileau über die Anatomie des Humeruskopfes schaffte die Voraussetzung dafür, dass die Fa. Tornier um 1990 die ersten anatomiegerechten Schulterprothesen auf den Markt bringen konnte. Deren Merkmal waren ein modular verstellbarer Inklinationswinkel und ein posteromedialer Offset der Kopfkalotte. Mit diesen Prothesen ließ sich die Anatomie des proximalen Humerus rekonstruieren bis auf die fehlende Einstellbarkeit der Retroversion der Kalotte. 1996 entwickelten wir, Christian Gerber und ich, Prothesen mit einer zusätzlich variablen Retroversion, die eine erstmals dreidimensionale, vom Schaft unabhängige Modularität der Kopfkalotte aufwies. Um die Probleme beim Schaftwechsel zu umgehen, folgte die Entwicklung konvertierbarer Schäfte wiederum durch Gerber in Zürich.
2002 meldete ich ein Patent für eine schaftfreie Humeruskopfprothese an, die 2005 durch die Fa. Arthrex auf den Markt kam und als eine disruptive Entwicklung zu verstehen ist. Da das Rotationszentrum des Humeruskopfes direkt unterhalb der Metaphysenfuge verläuft, zentrieren sich die Kraftvektoren genau dort und führen zu einer Autokompression des Kopfimplantates im Drehpunkt der Prothese (Abb. 1, 2). Heute nach 20 Jahren Erfahrung mit den schaftfreien Kopfprothesen hat sich diese Erfindung weltweit bewährt.
Eine noch faszinierendere disruptive Erfindung gelang 1985 Paul Marie Grammont aus Dijon mit der erstmaligen Entwicklung einer inversen Prothese. Hierbei war der Grundgedanke, Schulterarthrosen, die durch chronische Defekte der Rotatorenmanschette entstehen, prothetisch zu versorgen. Die wichtigste Voraussetzung für große Beweglichkeit und Kraft der Schulter liegt im Funktionieren dieser Muskelmanschette. Ohne sie findet der Humeruskopf keinen Halt in der flachen Pfanne.
Grammont drehte bei seiner Erfindung das Konstrukt um 180°, versetzte den Kopf auf die Pfannenseite und implantierte auf den Oberarm eine Pfanne mit Schaft. Damit verlagerte er den Drehpunkt vom Humeruskopf auf die Pfannenseite, was zu einem verbesserten Kraftschluss durch den Deltamuskel führte (Abb. 3, 4). Zudem setzte er den Humerus tiefer, wodurch sich die Vorspannung auf den Deltamuskel erhöhte.
Außer in Frankreich trauten sich keine anderen Orthopädinnen und Orthopäden, das Implantat einzubauen. Erst nachdem 1995 die Fa. De Puy die französische Herstellerfirma aufgekauft und ein intensives Marketing begonnen hatte, wagten in Europa anfangs nur wenige Fachgrößen, die inverse Prothese einzubauen. In Deutschland waren das Fridun Kerschbaumer und Ludwig Seebauer. Erst 2005 wurde das Implantat auch in den USA zugelassen. Christian Gerber wiederum entwickelte Ende der 1990er Jahre seine modular konvertierbare Prothese so um, dass sie als inverse Prothese modular konvertierbar wurde. Damit war er seiner Zeit weit voraus.
Mark Frankle aus Florida erkannte als Erster die Geburtsschwächen der Grammont-Prothese, nämlich das glenoidale Notching und die relativ leichte Luxierbarkeit des Implantates. Um das zu vermeiden, verwendete er Glenosphären mit vergrößertem lateralem Offset und vor allem einen Inklinationswinkel der humeralen Pfanne von physiologischen 135° statt 155° wie bei Grammont. Es kam nun nicht mehr zum schmerzhaften Kontakt zwischen Pfannenrand und Scapulahals, und der Deltamuskel erhielt seine konzentrische Vorspannung zurück. Damit sind meine prägendsten Erfahrungen in der Schulterchirurgie noch nicht zu Ende erzählt, aber sie veranschaulichen an wenigen Beispielen, welche großartigen Entwicklungen in den letzten 40 Jahren für unsere Patientinnen und Patienten stattgefunden haben!