Mai 2023 – Ausgabe 41

Kraniale Komplikationen in der Wirbelsäulenchirurgie vermeiden durch Bewusstsein

Dr. med. Hassan Allouch
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Dr. med. Kais Abu Nahleh
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Schlüsselwörter: Thrombose, Duraleck, Visusverlust, Wirbelsäulenchirurgie

„A surgeon without complication, is a surgeon in vacation” – eine (leider) wahre Aussage, mit der sich jeder Chirurg früher oder später konfrontiert sieht. Insofern ist die Kenntnis typischer und auch seltener Komplikationen notwendig, um Strategien zur systematischen Vermeidung und Behandlung derselben entwickeln zu können. Der vorangestellte Ausspruch ist nicht umsonst aus dem angloamerikanischen Raum entlehnt, denn wir müssen hierzulande immer noch eine im internationalen Vergleich unter- durchschnittliche Fehlerkultur in der Medizin verzeichnen. Abhandlungen zu Komplikationen sind eher unbeliebt. Dies soll Anlass sein, im Folgenden einige typische bis hin zu sehr seltenen Komplikationen aus der Wirbelsäulenchirurgie darzustellen. Der Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll einige aus unserer Sicht interessante Themen herausgreifen.

Seltene Varianten thromboembolischer Ereignisse

Thrombosen und Embolien sind klassische perioperative Komplikationen, deren Eintrittswahrscheinlichkeit von der Ausdehnung des operativen Eingriffes und der damit verbundenen Aktivierung der Gerinnungskaskade sowie von der Lokalisation des Eingriffes und von möglichen postoperativen Einschränkungen der Mobilität stark beeinflusst wird.

Eine medikamentöse Thromboembolie- Prophylaxe mit niedermolekularen Heparinen ist in der Wirbelsäulenchirurgie weithin Standard. Für Risikopatienten muss eine intensivierte Thromboembolieprophylaxe diskutiert werden (zum Beispiel halbtherapeutische Dosierungsschemata). So ist eine erhöhte Neigung für thromboembolische Ereignisse bei Patienten mit Tumorerkrankungen und auch bei Infektionserkrankungen bekannt; dies ist mittlerweile auch für Patienten mit SARS- CoV-2-Infektion belegt [1, 2]. Im Rahmen von Operationen in Bauchlage kann die Kopfdrehung in diesem Zusammenhang auch kraniale Ischämien auf dem Boden einer arteriellen Thromboembolie begünstigen (Abb. 1).

Duraverletzung

Die Inzidenz intraoperativer Duraverletzungen bei Wirbelsäulenoperationen wird, abhängig von der Art der Operation, mit 3,1 % bis 17 % angegeben (3,5 % bei primärer Diskektomie, 8,5 % bei Spinalkanalstenose-Operationen und 13,2-17,4% bei Revisions-Diskektomie) [3, 4, 5]. Die Rate der Duraverletzungen ist höher bei lumbalen Operationen (5,8 %) im Vergleich zu zervikalen (1,4 %) und thorakalen (3,6 %) Eingriffen und auch bei Revisionseingriffen (13,5 %) im Vergleich zu primären (4,8 %) [6]. Im klinischen Alltag problematischer, wenn auch seltener (0,28 %) ist das unbemerkte Auftreten von Durotomien (okkulte Duraverletzung) während extraduraler Wirbelsäuleneingriffe [4], da diese Patienten nicht einer entsprechenden Behandlung zugeführt werden können und die Durotomie meist erst im Gefolge einer Komplikation zutage tritt.

Bei Durchführung der Operation sollte auf Risikofaktoren für das Auftreten einer Duraverletzung geachtet werden: erhöhte chirurgische Invasivität, fortgeschrittenes Patientenalter, Einsatz von Hochgeschwindigkeitsfräsen, lumbale Chirurgie, degenerative Erkrankung, Ossifikation des Ligamentum longitudinale posterius (OPLL) und/oder des Ligamentum flavum (OLF), Revisions-Eingriffe und Vorhandensein eines sog. ATA-Ligaments (ATA – attention to terminal attachement), einem Ligament, das sich zwischen dem Ligamentum flavum und der dorsalen Oberfläche der Dura auf Höhe des fünften Lendenwirbels erstreckt. Dieses Band kann für unbeabsichtigte Verletzungen der Dura während der Operation verantwortlich sein [7].

Falls es trotz sorgfältiger Operationstechnik zur Duraverletzung kommt, behandeln wir solche Patienten in unserer Einrichtung gemäß einem Standardprotokoll. Bei intraoperativer Durotomie sollte ein wasserdichter Duraverschluss angestrebt werden. Die intraoperative Beurteilung der Versorgung kann durch visuelle Inspektion unter dem Valsalva-Manöver für zehn Sekunden oder länger kontrolliert werden. Bei komplexen Defekten sollte eine Lumbaldrainage erwogen werden. Es wird empfohlen, den Liquorverlust während einer Wirbelsäulenoperation durch sofortigen Verschluss und eine Tieflagerung des Kopfes der Patienten zu minimieren. Bei solchen Manövern sollte jedoch die Möglichkeit einer Luftembolie über Epiduralvenen berücksichtigt werden.

Bei Durotomie oder im Zweifelsfall bei Revisionseingriffen sollten Wunddrainagen ohne Sog verwendet werden. In der minimalinvasiven Chirurgie sind Drainagen in der Regel gar nicht notwendig. Die Menge der Drainageflüssigkeit soll durch Pflegepersonal sorgfältig kontrolliert werden. Auch wenn strittig, empfehlen wir nach lumbaler Wirbelsäulenoperation mit intraoperativer Duraverletzung Bettruhe für 24–72 h. In unserer Einrichtung wird die dreitägige Bettruhe von einer Krankengymnastik im Bett unter medizinischer Thromboembolieprophylaxe begleitet.

In Folge einer Liquorleckage kann es sehr selten zum Auftreten von intrakraniellen Blutungen kommen (0,92 %) [8], (Abb. 2). Daraufhin sollten Patienten mit intraoperativem Liquorverlust engmaschig auf Anzeichen eines intrakraniellen Hämatoms überwacht werden. Bei jedem Patienten mit neurologischer Verschlechterung nach Wirbelsäulenoperation, die nicht durch den spinalen Eingriff selbst erklärt werden kann, muss an eine intrakranielle Blutung gedacht werden. Die frühzeitige Erkennung dieser Patienten mit sofortiger

Bildgebung des Gehirns wird es ermöglichen, so schnell wie möglich eine geeignete Therapie einzuleiten, wodurch anhaltende neurologische Schäden minimiert oder meist sogar verhindert werden [8].

Im Falle einer intrakraniellen Blutung nach einer Wirbelsäulenoperation sollten die Drainagen entfernt und dem Patienten zur Einhaltung von Bettruhe geraten werden. Unverzüglich sollte eine MRT der spinalen Indexregion durchgeführt werden, um eine anhaltende Liquorleckage auszuschließen. In diesen Fällen sollte eine Re- visionsoperation mit Duraverschluss zur Reduzierung des Liquorverlusts in Erwägung gezogen werden [8] (Abb. 3).

Sehstörungen nach Wirbelsäulenoperationen

Die Inzidenz von Sehstörungen (postoperative visual loss – POVL) nach wirbelsäulenchirurgischen Eingriffen in Bauchlage wird mit 0,013 % – 1 %, meist um 0,2 %, angegeben [9, 10, 11, 12, 13]. In der Mehrzahl der Fälle (89 %) handelt es sich um eine ischämische Optikusneuropathie (ION), wobei eine vordere (AION) von einer hinteren (PION) Neuropathie unterschieden wird. In der Wirbelsäulenchirurgie in Bauchlage dominiert hierbei die PION. Deutlich seltener treten Zentralarterienverschlüsse, Zentralvenenverschlüsse, kortikale Erblindung, Schädigungen durch direkten Bulbusdruck sowie ein akutes Engwinkelglaukom auf [12, 13]. Allen gemein ist eine relativ hohe Rate von Erblindungen mit 40-70 % [12].

In der Literatur identifizierte Risikofaktoren für das Auftreten von postoperativen Sehstörungen im Zusammenhang mit Wirbelsäulenoperationen sind die Operationsdauer, Blutverlust, Fusionslänge, intra- operative Hypotension und -volämie sowie Anämie. Weiterhin wird das Auftreten bei Männern, Patienten mit Diabetes mellitus, höherem BMI sowie persistierendem Foramen ovale häufiger beobachtet. Die Kopfdrehung hat über mögliche Kompression von V. jugularis und A. carotis einen Einfluss auf das Auftreten von postoperativen Sehstörungen [12].

Strategien zur Vermeidung von postoperativen Sehstörungen nach Wirbelsäuleneingriffen beinhalten die Vermeidung von Hypotension, Hypovolämie und Anämie. Als Trigger wird in diesem Zusammenhang ein Hämatokrit von 30 % für Risikopatienten angesehen. Weiterhin ist direkter Augendruck sowie eine Kopfrotation möglichst zu vermeiden, Kopflagerungskissen oder -schalen können hilfreich sein. Mittels Anti-Trendelenburg-Lagerung von ca. 10° soll einer Stauung im Kopfbereich entgegengewirkt werden. Intraoperativ sollten Vasopressoren sparsam eingesetzt werden, Änderungen von Blutdruck-relevanten Medikamenten sollten präoperativ vermieden werden. Soweit möglich sollten OP-Dauer und Blutverlust begrenzt werden. Patienten mit vorgenanntem Glaukom sollten präoperativ einem Augenarzt zur Durchführung eines „provocative prone test“ vorgestellt werden. Risikopatienten (Patienten mit kardiovaskulärer und metabolischer Komorbidität, OP-Dauer > 2 h, Blutverlust > 1 l) sollten frühzeitig postoperativ bezüglich möglicher Sehstörungen evaluiert werden [9, 10, 11, 12, 13].