Oktober 2020 – Ausgabe 36
Der optimale OP-Zeitpunkt bei akutem Kreuzbandriss
Dr. med. Steffen Thier
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Keywords: VKB-Ruptur, OP-Zeitpunkt, postoperative Bewegungseinschränkung, Arthrofibrose, Return-to-sport
Der Riss des vorderen Kreuzbandes stellt für die meist jungen und sportlichen Patienten eine ernstzunehmende Verletzung des Kniegelenks dar. Ob Leistungs- oder Amateursportler/in, alle wünschen die schnellstmögliche Wiedererlangung der Sportfähigkeit nach dieser Verletzung. Eine zeitnahe operative Versorgung nach dem Trauma ist daher erstrebenswert. Studien aus den 90er-Jahren äußerten jedoch Bedenken gegenüber einer zeitnahen Operation.
Ursache der Bedenken gegenüber einer zeitnahen Kreuzbandplastik war eine erhöhte Rate von vernarbungsbedingten Bewegungsdefiziten der Kniegelenke, die nach der Operation beobachtet wurde. Unter Berücksichtigung aktueller minimalinvasiver OPTechniken und moderner frühfunktioneller Nachbehandlungsprogramme erscheint diese Befürchtung nach der vorhandenen Studienlage je doch nicht begründet.
Phasen der natürlichen Band Heilung bei Kreuzbandriss
Nach dem Riss des vorderen Kreuzbandes (Abb. 1) kommt es zunächst zu einer Einblutung in das Kniegelenk. Die Chirurgen sprechen hierbei von einem Hämarthros (blutgefülltes Gelenk), welcher zu einer Bewegungseinschränkung des Kniegelenks führt. Diese Phase wird auch als sogenannte Entzündungsphase (Exsudationsphase 1.–5. Tag) bezeichnet.
In der reparativen Phase (5–28 Tage) kommt es zum Abklingen der Schwellung und der Primärsymptome. Gefäße und gewebsproduzierende Zellen wandern in den Riss ein und produzieren Kollagen, weswegen auch von der Heilungsphase gesprochen wird.
Abschließend kommt es zur sog. remodellierenden Phase (28 bis 42 Tage). Durch die ersten mechanischen Belastungen kommt es zur Anpassung und Ausrichtung der Kollagenfibrillen und der Zellen im Wundgebiet. Dies erfolgt nach dem Prinzip „form follows function“, das Band gewinnt hierdurch an Stabilität. Die Phasen zeigen sich in ihrer Dauer individuell unterschiedlich und verlaufen meist überlappend.
Grundsätzlich wurde bisher angenommen, dass eine Operation im Rahmen der Entzündungsphase zu einer erhöhten Rate an Arthrofibrosen (Gelenkverklebung) mit resultierenden Bewegungseinschränkungen nach der Operation führen kann (Abb. 2).
Studien aus den 90erJahren, wie zum Beispiel von Mayr et al. und Cosgarea et al., zeigten in retrospektiven Beobachtungsstudien (Evidenzlevel 4, einge-schränkte Studienqualität), dass das Aus maß der präoperativen Ergussbildung sowie ein posttraumatisches Bewegungsdefizit von ≥ 10 Grad mit einer erhöhten postoperativen Arthrofibroserate zu korrelieren scheint.
Die am häufigsten zitierte Studie zu diesem Thema (Shelbourne et al.) wertete 169 Patienten nach VKBRekonstruktion retrospektiv aus (Evidenzlevel 4).
Die Patienten wurden zu drei unterschied lichen Zeitpunkten operiert (0–7 Tage nach der Verletzung, 8–21 Tage bzw. >21 Tage). Die Studie hat allerdings deutliche Mängel: Der Einschluss in die jeweilige Studiengruppe erfolgte nach Patientenwunsch. Die Operation wurde seinerzeit offen und nicht arthroskopisch durch geführt. Außerdem wurden die Patienten unabhängig von der operativen Gruppenzuteilung in verschiedene Subgruppen unterteilt, die entweder zurückhaltend oder beschleunigt nachbehandelt wurden. Somit waren die Gruppen schwierig zu vergleichen. Die Patienten hatten zudem teilweise zusätzliche Verletzungen am Meniskus oder an den Seitenbändern.
Ein schlechtes postoperatives Ergebnis wurde mit einem Streckdefizit bewertet. Ob es sich hierbei um eine Arthrofibrose handelte oder zum Beispiel um einen fehlerhaft platzierten Bohrkanal, wurde nicht weiter differenziert.
Es wurde postuliert, dass ein OPZeitpunkt frühestens drei Wochen nach Trauma für ein gutes postoperatives Ergebnis vorteilhaft wäre. Allerdings erzielten Patienten in aktuelleren Studien mit beschleunigter Nachbehandlung auch zu früheren OPZeitpunkten durchweg gute Ergebnisse:
Wasilewski et al. zeigten eine Reduktion von Komplikationen durch moderne arthroskopische Rekonstruktionsverfahren im Vergleich zu den offenen bei VKBRupturen.
Eine Übersichtsarbeit von jüngeren Studien zum Thema OPZeitpunkt bei Kreuzbandriss von Kwok et al. 2012 (Studien Evi denzlevel 1 und 2) zeigt keinen Einfluss des OPZeitpunkts auf das postoperative Ergebnis in Hinblick auf eine Bewegungseinschränkung. Hier wird postuliert, dass auch bei früher Operation kein erhöhtes Risiko einer postoperativen Bewegungseinschränkung besteht, sofern ein arthroskopisches OPVerfahren sowie ein beschleunigtes Rehabilitationsprotokoll verwendet werden.
Die aktuellste und gut angelegte Level 2Studie zu diesem Thema (Erikson et al. 2017) zeigte, dass auch durch eine OP im Rahmen der ersten acht Tage nach Verletzung keine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer reduzierten Beweglichkeit des Kniegelenks zu erwarten ist. Zusätzlich konnte im weiteren Verlauf nach drei und sechs Monaten ein wesentlich geringerer Verlust der Oberschenkelmuskulatur nachgewiesen werden.
Bietet ein früherer OPZeitpunkt Vorteile?
Ein Vorteil einer frühen operativen Versorgung könnte in der schnelleren Wiederkehr zum Sport liegen. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass bei längerer Wartezeit zwischen Trauma und OP die Wahrscheinlichkeit einer sekundären Meniskusverletzung erhöht ist, wie Chhadia et al. nach weisen konnten. Dies lässt sich dadurch erklären, dass ein Knie- ohne Kreuzband instabil ist und der Meniskus als sekundärer Stabilisator überfordert wird und reißt.
Im Umkehrschluss können primäre Begleitverletzungen am Meniskus rasch versorgt werden. Eine Meniskusnaht hat direkt nach dem Trauma eine bessere phasenbedingte (siehe oben) Voraussetzung zu heilen.
Fazit
Im Rahmen einer Kreuzbandruptur gibt es keine Evidenz dafür, dass der OP-Zeitpunkt einen signifikanten Einfluss auf das postoperative Ergebnis hat. Bei Verwendung eines beschleunigten Nachbehandlungsschemas ist auf dem Boden der aktuellen Studienlage eine postoperative Bewegungseinschränkung nicht mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Somit kann nach unserer Einschätzung ein OP-Zeitpunkt schnellstmöglich nach VKB Ruptur terminiert werden, insbesondere wenn Begleitverletzungen vorliegen und/ oder die Patientin oder der Patient dieses Vorgehen präferiert.